Flüchtlinge, Festung Europa und alte Klischees

Solange man überholte Erklärungsmodelle und die Angst vor Populisten zu wenig hinterfragt, verpasst man die Chance, funktionierende Lösungen für eine ethnisch vielfältige Gesellschaft zu finden.

Es ist nicht der Terror der vergangenen Wochen, Monate und Jahre, der zu diesen Zeilen angeregt hat. Vielmehr sind es die Vereinfachungen, die alten Schablonen, die die Debatte um Asyl, Migration, Integration seit Langem durchziehen.

„Gefühle siegten über Sachargumente“: Seit Langem haben Experten die gleiche Erklärung für Kritik an der Migrationspolitik. Es gehe um diffuse Gefühle. Wer Flüchtlinge kenne, verliere seine Bedenken. Kritiker der Migrationspolitik seien vor allem rassistisch motiviert. Und eigentlich litten nur schlechter Gebildete und sozial Schwache unter Fremdenangst. Manchmal trifft all das zu, manchmal aber auch nicht.

Außerdem: Nicht alles, was nach Hilfe aussieht, ist nur hilfreich – langfristig und global gesehen. Migrationspolitik hat auch Auswirkungen auf die Herkunftsländer, auf die dort Zurückgebliebenen ebenso wie auf die schon früher Zugewanderten. Die Migrationsdebatte kratzt zu oft nur an der Oberfläche.

Die Ängste von Promis

So sollte zu denken geben, dass bekannte Zugewanderte sich öffentlich kritisch äußern. Und es sind nicht nur Prominente, die sich fragen, wie manche Politiker zu ihrem „naiven Integrationsoptimismus angesichts von Hunderttausenden“ Flüchtlingen kommen, so Sabatina James, pakistanisch-österreichische Menschenrechtsaktivistin in der „Welt“.

Es wird immer noch heftig über Flüchtlinge diskutiert: angeblich Fremdenhasser versus Fremdenliebende. Immer noch zu wenig hört man aber, was „die Fremden“ selbst sagen. Der syrischstämmige Politikwissenschaftler Bassam Tibi, der in der Türkei geborene Ex-Grüne Efgani Dönmez, Kriegsberichterstatterin Düzen Tekkal mit kurdisch-jesidischer Abstammung, oder der im Libanon geborene Ralph Ghadban, Migrationsforscher mit Schwerpunkt Islam – sie alle äußerten sich zu den Risken von Zuwanderung aus ferneren Kulturkreisen.

Die türkischstämmige Necla Kelek meinte gar, Deutschland solle bleiben, wie es ist: Ungewöhnlich für eine Sozialwissenschaftlerin – gerade in einem Land, in dem Patriotismus verpönt ist, auch weil er als Zeichen von geringer Bildung verdächtigt wird.

Die genannten Personen bestätigen kaum die gängigen Klischees. Es sind oft gebildete Liberale, anerkannte Persönlichkeiten, Personen mit Expertise zum Thema. Personen, die nicht zu wenig Kontakt oder Wissen über „Fremde“ und deren Herkunftsländer haben, sondern im Gegenteil, einst selbst aus diesen Ländern gekommen sind. Wieso haben gerade sie Ängste?

Die Genannten äußern sich misstrauischer als der typische westliche liberale Bürger. Das fordert jene heraus, die hierzulande sozialisiert wurden. Dabei hat es mit ihren Erfahrungen in ihrer Herkunftsregion oder in den Migranten-Communitys zu tun.

Europa als Magnet

Diese Sichtweise von Ausländern ist nüchterner, kritischer, gerade weil sie sich besser in Zuwandernde hineinversetzen können. Und vielleicht haben sie auch weniger Angst vor dem Rassismusvorwurf.

Wieso nun wirken westliche Politiker, gar Experten „naiv“?
Erstens, weil Westeuropa seine enorme Attraktivität unterschätzt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass man als im Westen Lebender von Verwandten, Bekannten in der alten Heimat gebeten wird, dass man ihnen helfe, nach Österreich zu kommen. Viele EU-Bürger aus Ungarn, Rumänien, Bulgarien, der Slowakei, Polen, sogar aus Deutschland verlassen ihr Land, um in Österreich zu arbeiten.

Wundert es wirklich, dass in einer globalisierten Welt Menschen aus Ländern, in denen man durchschnittlich 50 bis 200 Euro verdient und es viel weniger Chancen gibt, sich zu verbessen, im goldenen Westen leben wollen? Wer in ärmeren Regionen eine Möglichkeit sieht auszuwandern, nutzt diese. Nicht alle, aber immer mehr.

Wieso interessiert man sich so wenig für die Hintergründe? Etwa die Chance, Kindern eine Zukunft zu bieten – wie Asylwerber es oft sagen. Schließlich, auch materielle Sicherheit „bewegt“.
Zweitens, weil kulturelle oder auch nur regionale Unterschiede gerade von der hiesigen „Intelligenzia“ gern unterschätzt werden, während die klassischen Xenophoben diese überbetonen? Dabei sind es gerade westlich Denkende, die sich besonders echauffieren über die Erdoğans, Putins, Orbáns – alle populär in ihren Ländern oder in Migranten-Communitys Europas.

Konkurrenz um Arbeitsplätze

Drittens, weil es als nahezu unmoralisch gilt, über die Risken von größeren Migrationsbewegungen zu sprechen. Dabei berichten Journalisten regelmäßig über die Probleme in den Herkunftsländern. Ihre Reportagen zeigen, wie unterschiedlich man anderswo lebt und denkt. Man nimmt an, Ausländer würden diese Denkweisen mit der Zeit aufgegeben. Dabei ist die damalige Zeit kaum vergleichbar. Laissez-faire und Toleranz ersetzten autoritäre Politik.

Europa sei eine Festung, sagen dieselben Journalisten oft. Gleichzeitig hieß es 2014 in Wien: 49 Prozent der Einwohner hätten Migrationshintergrund. Gerade benachteiligte Junge haben in der Schule oder in ihrer Nachbarschaft immer weniger Gelegenheit, „Österreicher“ zu treffen.

Es hat damit zu tun, dass 64 Prozent der Migranten laut einer deutschen Umfrage weniger Flüchtlinge aufnehmen wollen. Länger in Deutschland lebende Syrer finden es nicht gut, „dass Europa für alle offen ist“. Und selbst Flüchtlinge äußern solche Sorgen. Sie leiden am meisten, wenn die Bevölkerung ihnen immer weniger wohlgesinnt ist. Die Konkurrenz um Arbeitsplätze unter Flüchtlingen und unter Migranten generell zeigt wiederum, dass jede Hilfe eine Schattenseite hat.

Vertrauen und Konsens

Südländisch aussehende Männer bemerken ein wachsendes Misstrauen seitens der einheimischen Bevölkerung ihnen gegenüber. Das zeigt, dass die Dosis an Zuwanderung nicht egal ist. So wurden Flüchtlinge bis in die 1990er-Jahre noch anders wahrgenommen. Die Empathie ist trotz Willkommenskultur insgesamt gesunken.

Zugewanderte müssen aber auch mit den ihnen gegenüber kritisch Gesinnten zusammenleben. Sie konkurrieren um Jobs und Wohnungen. Gute Nachbarschaft erfordert Vertrauen und Konsens. Länder wie Österreich stellen hohe Anforderungen an sich. Und es gibt auch Staaten, die ziemlich offen zeigen, dass sie keine Ausländer aufnehmen wollen. Keine Ärmeren. Selbst „offene“ migrationserfahrene Länder wie Kanada oder die USA suchen sich Flüchtlinge mit geringem Sicherheitsrisiko aus.

In der direkten Nachbarschaft sind viele Länder sowieso eher vorsichtig als human. Das wird wenig kommentiert. Wer interessiert sich für die Flüchtlingspolitik Israels oder des Iran? Man ist zu viel mit sich selbst beschäftigt.

Will man wirklich helfen, sollte man den Blickwinkel erweitern. Solange man die alten Erklärungsmodelle und Ängste vor Populisten zu wenig hinterfragt, verpasst man die Chance, funktionierende Lösungen zu finden.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN


Margarita Schubert
studierte Internationale Betriebswirtschaft. Ein Elternteil kommt aus Armenien. Ihr Interesse gilt Fragen der Bildung und Ausbildung von Jugendlichen sowie sozialen Themen. In ihrer beruflichen Tätigkeit widmet sie sich Asylwerbern und Migranten. Daneben arbeitet sie als freie Journalistin. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.08.2016)

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