Das lebensgefährliche Spiel mit der Krise

Obwohl sich alle einig sind, dass es so nicht weitergehen kann, ändert sich nichts. Das ist ziemlich beunruhigend.

Ratlosigkeit auf gehobenem Niveau: Das war die vorherrschende Stimmung bei den Wirtschaftsgesprächen, die in dieser Woche im tirolerischen Alpbach stattgefunden haben. Und es ist die vorherrschende Stimmung in den politischen Zirkeln der sogenannten westlichen Welt: Von Washington bis Berlin wird man keinen Politiker treffen, der nicht im Brustton der Überzeugung sagen würde, dass sich die Welt nach der Krise von der Welt vor der Krise fundamental unterscheiden werde. Unterscheiden müsse.

Wir dürfen, so lautet die allgemeine Überzeugung, die von den liberalen Ökonomen und von Attac-Aktivisten geteilt wird, nicht so weitermachen wie bisher. Zuletzt warnte gestern Dominique Strauss-Kahn, der Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF), die Finanzindustrie vor „business as usual“. Die Frage, was sich denn ändern müsse, wird freilich höchst unterschiedlich beantwortet.

Die Attac-Aktivisten träumen von einer Welt, in der Bankkunden demokratisch über Zinssätze abstimmen. (Um das zerstörerische Potenzial dieses Fiebertraums abzuschätzen, muss man sich kurz vorstellen, wie sich Österreich entwickeln würde, wenn man die Pensionisten unter Führung von Karl Blecha und Andreas Khol darüber entscheiden ließe, wie hoch die Erhöhung ihrer Bezüge ausfallen solle.)

Liberale Ökonomen hingegen hoffen darauf, dass sich in den globalisierten Finanzmärkten ebenso globale Regeln und Rahmenbedingungen für einen fairen Wettbewerb etablieren lassen.


Wie die von allen als unumgänglich akzeptierten Reformen konkret aussehen sollen, ist seit dem öffentlichkeitswirksamen Treffen der G20 im vergangenen Krisenwinter nicht wirklich deutlich geworden. Dass sich die Diskussion im Vorfeld des bevorstehenden Folgetreffens in Pittsburgh auf den populistischen Wettbewerb um Eingriffe in die Remunerationssysteme der Finanzindustrie beschränken („Boni“!), ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass weder über den Inhalt noch über die Umsetzungsmöglichkeiten neuer Regulierungssysteme ausreichend Einigkeit besteht.

Klar ist nur, dass eine Reduktion des Risikos künftiger Riesenblasen wesentlich von zwei Faktoren abhängt: von erhöhten Eigenkapitalerfordernissen für die Finanzinstitute (um zu große „Hebel“ und das „zu schnelle Drehen am großen Geldrad“ zu verhindern) und von der grenzübergreifenden Kontrolle grenzüberschreitender Finanzinstitutionen. Das klassische europäische Beispiel für Europa ist in Österreich wohlbekannt: Wer ist zuständig, wenn es in der Unicredit ein Problem mit, sagen wir, ihren polnischen Operationen gibt? Die polnische Finanzmarktaufsicht? Die österreichische? Die italienische? Partizipationskapital wollen international agierende Banken von allen Staaten, beaufsichtigt möchten sie in keinem werden.

Dass die vielstimmige politische Einigkeit darüber, dass es so nicht weitergehen kann, nicht wirklich eine Entsprechung in der ökonomischen Realität findet, ist zunehmend beunruhigend. Dass die amerikanischen Banken trotz Wirtschaftskrise und Kreditklemme Rekordgewinne ausweisen, hat bekanntlich ausschließlich damit zu tun, dass man ihnen erlaubt hat, ihre Schrottpapiere deutlich über dem tatsächlichen Marktwert in ihre Bilanzen zu nehmen. Das politische Motiv dahinter ist klar: Wiedergewinnung des öffentlichen Vertrauens in ein baldiges Ende der Krise.


Ein gefährliches Spiel, das lebensgefährlich werden kann, wenn es auch auf das zweite Feld der großen Zukunftsherausforderungen übertragen wird: den Ausstieg der öffentlichen Haushalte und der Notenbanken aus dem rasenden Schulden- und Geldmengenkarussell, das sie – vollkommen zu Recht – in Gang gesetzt haben, um den Totalabsturz zu verhindern, als die Welt vor gut einem Jahr nach der Schockwelle des Lehmann-Konkurses „in den Abgrund schaute“ (Paul Krugman). Federal Reserve und EZB haben auf den September-Schock 2008 richtig reagiert und das Ärgste verhindert. Was jetzt kommen muss, ist mindestens so schwierig: Ausstieg ohne Absturz. Wenn die Politik auch auf diesem Feld Stimmen bei unmittelbar bevorstehenden Wahlen für wichtiger hält als die nachhaltige Sanierung der Haushalte, steuern wir erneut auf den Abgrund zu.

Es gibt leider keinerlei Anzeichen dafür, dass die Politik bereit und in der Lage ist, den Menschen die Wahrheit zu sagen: Die Verschuldungskrise, die im Herbst 2008 ihren Höhepunkt erreicht hat, ist noch lange nicht vorüber.

Ein Jahr Krise: Fast alles beim Alten Seiten 1–3


michael.fleischhacker@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.09.2009)

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