Ankara ist erbost über Kanzler Kern

Der türkische Europaminister, Ömer ?elik, bezeichnet die Aussagen von Kanzler Kern als verstörend
Der türkische Europaminister, Ömer ?elik, bezeichnet die Aussagen von Kanzler Kern als verstörend(c) APA/AFP/ADEM ALTAN
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Europaminister Çelik wirft Österreichs Kanzler vor, ähnliche Aussagen wie Rechtsextreme zu treffen. Kern hat im „Presse“-Interview gesagt, dass die Türkei nicht EU-Mitglied werden könne.

Wien/Ankara. Die Forderung des österreichischen Bundeskanzlers Christian Kern (SPÖ), die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen, sorgt in Ankara für herbe Kritik: Der türkische Europaminister Ömer Çelik geißelte Kerns Aussagen als verstörend und „ähnlich denen von Rechtsextremen“. Kern habe mit seinen Worten in Ankara Unbehagen ausgelöst.

Der Bundeskanzler hatte im Interview mit der „Presse“ gesagt, er sehe die Türkei nicht als potenziellen EU-Aufnahmekandidaten. „Nicht jetzt und nicht in den kommenden Jahrzehnten.“ Europa brauche im Umgang mit der Türkei einen neuen Weg.

Unterstützung erhielt Kern am Donnerstag von Österreichs Außenminister, Sebastian Kurz (ÖVP): Er weise die Kritik des türkischen Europaministers scharf zurück, schrieb Kurz auf Twitter.

In der „ZiB2“ hatte Kern zudem betont: „Wir wissen, dass die demokratischen Standards der Türkei bei Weitem nicht ausreichen, um einen Beitritt zu rechtfertigen.“ Çelik hingegen sagte, dass die Grundwerte der EU die Referenz für die Türkei blieben. Seit dem gescheiterten Putsch in der Nacht auf den 16. Juli sehen die europäischen Staaten aber genau diese Grundwerte in Gefahr. Die regierende AKP geht rigoros gegen das konspirative Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen vor, der den Coup dirigiert haben soll. Zehntausende sind in den vergangenen Wochen verhaftet oder entlassen worden.

Juncker warnt vor Abbruch

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnte am Donnerstag vor einem Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. „Ich sehe nicht, dass es jetzt eine Hilfe wäre, wenn wir einseitig der Türkei bedeuten würden, dass die Verhandlungen zu Ende sind“, sagte er der ARD. Einen solchen Schritt hielte er für „einen schwerwiegenden außenpolitischen Fehler“, sagte Juncker mit Blick auf die Forderung Österreichs.

In Bayern fand der Vorschlag des österreichischen Kanzlers Zustimmung: Für Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) ist eine türkische EU-Mitgliedschaft „überhaupt keine Option“, zumal das Land demokratische Werte mit Füßen trete. Hermanns Parteifreund, der Vorsitzende der Volksparteien im EU-Parlament, Manfred Weber, verlangte ebenfalls den Abbruch der Verhandlungen.

Dabei liegen die Gespräche derzeit praktisch auf Eis. Die Europäische Kommission bezeichnet einen Abbruch als „kontraproduktiv“, zumal der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, nicht auf ewig die Macht im Land behalten könne. Ein Aussetzen der Gespräche erscheint der Kommission realistischer; die Verhandlungen können so in der Post-Erdoğan-Ära wieder aufgenommen werden.

Eine diesbezügliche Entscheidung könnte beim EU-Sondergipfel am 16. September in Bratislava (Pressburg) fallen. Kern hat angekündigt, bei diesem Treffen über einen möglichen Abbruch der Beitrittsgespräche beraten zu wollen.

In der EU wird der zunehmend autoritäre Regierungsstil von Erdoğan bereits seit geraumer Zeit scharf kritisiert. Erdoğan wiederum sieht den sogenannten Westen immer nur dann auf die Türkei zukommen, wenn etwas gebraucht werde. Im italienischen Fernsehen sagte der Präsident, dass man bei Anschlägen in Europa zusammenhalte, dass nach dem Putschversuch aber kein EU-Politiker in die Türkei gekommen sei.

Kerry reist in die Türkei

Auch zwischen Ankara und Washington ist die Stimmung gereizt, zumal der umstrittene Prediger Gülen in den USA lebt. Sogar eine Verstrickung in den Putsch haben türkische Regierungsmitglieder den USA vorgeworfen. Ankara will zudem die Auslieferung Gülens, bisher hat sich Washington aber nicht darauf eingelassen. Beide Nato-Mitglieder scheinen mittlerweile aber das Gespräch zu suchen: Medienberichten zufolge wird US-Außenminister John Kerry demnächst in die Türkei reisen.

Unterdessen setzt Ankara die „Säuberung“ des Staates vom Gülen-Netzwerk fort. Nach den Massenentlassungen und -verhaftungen in mehreren Ministerien ist nun die Geschäftswelt dran. Gülens Anhänger sind seit drei Jahrzehnten aktiv. In der Vergangenheit waren die AKP und Gülen Verbündete. Und genau das bedauerte nun Erdoğan, der sich nicht oft einsichtig zeigt: Er habe Vorbehalte und Beschuldigungen gegen Gülen ignoriert. „Ich persönlich half dieser Organisation auch, in der Überzeugung, dass wir Gemeinsamkeiten hätten.“ (ag./red.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2016)

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