Ursprünge des Kasperls: Hanswurst ohne Obszönität

Kasperl
Kasperl(c) APA (MANFRED MUELLER)
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Die Ursprünge der Figur liegen im 18. Jahrhundert: Engagierte Komödienschreiber lieferten Texte für den Schauspieler La Roche, der am Leopoldstädter Theater als Kasperl über Österreichs Grenzen hinaus berühmt wurde.

Die erste Fernsehsendung, die ich – Jahrgang 1958 – sehen durfte, war der Kasperl am Mittwoch um 15 Uhr“, erzählt Beatrix Müller-Kampel vom Institut für Germanistik der Uni Graz. War dieses Eintauchen in die Komik so prägend, dass sie heute ein FWF-Projekt über die Ursprünge des „Kasperl“ leitet und ein weiteres über „Kasperls komische Erben“ beginnt? Jedenfalls lebt Müller-Kampel auf, sobald sie von den Hintergründen des Personen- und Puppentheaters seit dem 18. Jahrhundert erzählt. Woher kommt der Kasperl? Und hat er seit Anbeginn gerufen: „Kinder, seid ihr alle da?“

Nein. Anfangs war der Kasperl weder eine Puppe noch eine Figur des Kindertheaters. Entwickelt hat sich die Figur des Kasperls als Nachfolger des berühmten Hanswurst, der von Josef Anton Stranitzky in Wien geprägt (aber nicht erfunden) wurde. „Hanswurst stammt ganz klar aus den europäischen Lachfiguren, die im Mittelalter und der frühen Neuzeit populär waren und sich an der Commedia dell'Arte orientierten“, erzählt Müller-Kampel. Ob Pulcinella in Italien, Punch and Judy in England oder Petruschka in Russland – jedes Land hatte seine Lachfigur. „Bei allen war Fressen und Saufen wichtig, und sie haben gern übers Vögeln, Scheißen und Furzen geredet“, beschreibt die Grazer Germanistin das Spektakel mit jener Derbheit, die damals in der Bühnensprache vorgeherrscht hat. Stranitzkys österreichischer Hanswurst war im deutschsprachigen Raum im 18. Jahrhundert am bekanntesten. Die Theaterform waren typische Stegreifkomödien, die ursprünglich auf Wanderbühnen, in Wien ab dem 18. Jahrhundert aber schon als stehende Bühnen betrieben wurden.

„Damals gab es beides: Personen- und Puppentheater“, erklärt Müller-Kampel. Und wie so vieles in diesem „Schlüsseljahrhundert“ eine starke Veränderung erfuhr, so tat sich einiges ebenfalls im Theater- und Kulturbereich: „Die übernationale Rationalisierung und Pädagogisierung ergriff auch die Theaterfiguren. Es wurden neue Konzepte entwickelt.“

Zensur und Stegreifverbot. Statt durch Obszönitäten und Nonsens die Leute zum Lachen und Schenkelklopfen zu bringen, sollte Theater als politisches Instrument bzw. als Schule dienen. Oder wie die Theaterwissenschaftlerin Hilde Haider-Pregler es nennt: als „des sittlichen Bürgers Abendschule“.

„Wien war in dieser Entwicklung nicht allein. In ganz Europa verloren die obszönen Klamaukgeschichten an Bedeutung“, sagt Müller-Kampel. Vor allem die Schriftsteller Josef von Sonnenfels und Johann Christoph Gottsched prägten die Theaterreformen weg von den lustigen Figuren hin zu sittlichen Inhalten. „Es gab Zensur und Stegreifverbot“, bestätigt Müller-Kampel. Durch das Verbieten von Unsinn und Klamauk wollte man die Gesellschaft pädagogisieren.

Aus diesem Prozess heraus entwickelte sich ab den 1730er-Jahren der „Kasperl“, der versuchte, die Komikzensur zu umgehen: „Am berühmtesten war in den 1780ern und 1790ern der Schauspieler Johann Josef La Roche in Wien.“ Sein Hauptspielort war das Leopoldstädter Theater, das 1781 von Karl von Marinelli in der damaligen Vorstadt Wiens (entspricht heute der Praterstraße 31) gegründet worden war.

„Die österreichischen Kulturtraditionen haben sich stark von der deutschen unterschieden“, betont Müller-Kampel. Von der Aufklärung, der Klassik und dem Sturm und Drang blieb Österreich „seltsam unberührt“. Hier regierte Josef II, dessen Beamte zwar die Komikformen verboten hatten, „aber die Kommissare saßen ja nicht in jeder Vorstellung drin“. Die Forschungen der Grazer Germanistinnen zeigen nun, dass La Roches berühmte Kasperlfigur die Komik nicht mehr im Text hatte, sondern wohl über Gestik, Improvisation und Faxen die Menschen zum Lachen brachte – eben nichts, das man rigoros zensurieren konnte.

Gemeinsam mit Andrea Brandner-Kapfer und Jennyfer Großauer-Zöbinger durchforstete Müller-Kampel die Sammlungen der Wienbibliothek im Rathaus, die Österreichische Nationalbibliothek und die Bibliothek der Österreichischen Theatermuseen, um mehr Belege des damaligen Theaters zu finden als Drucke und Manuskripte: zum Beispiel sogenannte „Rollenbücher“, die Faxen und Komik für bestimmte Theaterrollen festschrieben.

Sie entdeckten, dass der Leopoldstädter Kasperl ein akustisches Logo hatte: „Schon bevor er auf die Bühne kam, hörte man ihn ,Auwedl, auwedl‘ jammern. Da begann das Publikum schon zu lachen.“ Die Erwartungshaltung des Publikums war wichtig, seine selbstbemitleidende, jämmerliche – auch meist hässliche – Figur wurde mit Freude aufgenommen. Der Kasperl war demnach ein Hanswurst ohne Obszönität. Sogar eigene Hausautoren (quasi Drehbuchautoren und Gagschreiber) arbeiteten am Theater: „La Roche wurde ununterbrochen mit neuen Texten versorgt.“

In Wien war das Leopoldstädter Theater auch nach La Roches Tod 1806 allen als das „Kasperltheater“ bekannt. „Die 34-Kreuzer-Münze, die damals den Eintritt für das Parterre des Theaters ausmachte, wurde ,Kasperl‘ genannt.“ Auch für Reisende und Diplomaten um 1800 war es ein Muss, den Wienbesuch mit einem Besuch beim Kasperl aufzupeppen. „Sogar der Philosoph Hegel war dort. Und dieser sture, trockene Herr schrieb anschließend begeistert über das Wiener Kasperltheater.“ Dass auch Ausländer den Kasperl komisch fanden, ist ein weiterer Hinweis, dass das meiste über Körperwitz gestaltet wurde, denn „den Wiener Vorstadtdialekt hätten die Leute nicht verstanden“.

Aber wann wurde nun der Kasperl zu einer Puppe und zum Star für Kinder? „Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überlebte das Kasperltheater nur mehr als Wandertheater, und die Schauspieler stiegen immer mehr auf Puppentheater um“, erklärt Müller-Kampel. Ab den 1850ern wurde in München ein Puppentheater als stehendes Theater eigens für Kinder und Jugendliche berühmt: das Marionettentheater von Franz von Pocci.

Dieser Trend schlug auch auf Österreich über, und der Kasperl wurde immer mehr zur Kinderfigur. „Er ist selbst auch zum Kind geworden: ohne Frau, dafür mit Großmutter.“ Ab 1900 spielte sich das klassische Kasperl-Ensemble mit Polizist, Räuber, Prinzessin etc. ein. „Bis 1945 war auch immer ein ,Jude‘ dabei, stark antisemitisch gezeichnet. Und bis in die 1960er gab es auch den ,Neger‘ im Kasperltheater.“ Nur der Pezi ist eine Neuerfindung des Urania Puppentheaters von 1950. Und als „Jungstar“ des Kasperltheaters war Pezi auch von Anbeginn in den Fernsehübertragungen ab 1957 dabei. Allein der Sendetermin hat sich im ORF inzwischen geändert: Statt Mittwoch um 15 Uhr ist das Kasperltheater nun täglich um sieben Uhr früh zu sehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2009)

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