Neues Problem für Flüchtlingspakt EU/Türkei

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In Deutschland ist die Zahl der türkischen Asylanträge deutlich gestiegen. Stabile Asylzahlen sind aber die Voraussetzung für visumfreies Reisen nach Europa. Ohne Visumfreiheit will Ankara den Pakt aufkündigen.

Wien. Immer mehr türkische Staatsbürger suchen in der Europäischen Union um Asyl an. Dieser Schluss lässt sich aus den jüngsten Zahlen aus Deutschland ziehen – wo immerhin rund drei Millionen Menschen türkischstämmig sind. Wie der Berliner „Tagesspiegel“ unter Berufung auf Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge berichtet, ist die Zahl der Asylanträge von Türken im ersten Halbjahr 2016 drastisch gestiegen. Demnach haben bis Ende Juni 1719 türkische Staatsbürger um Asyl angesucht – fast so viele wie im Gesamtjahr 2015, als 1767 Asylanträge registriert wurden.

Die Mehrzahl der Asylwerber (konkret 1510) stammt aus kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei, wo sich der Konflikt zwischen der Untergrundorganisation PKK und der Staatsgewalt zuletzt intensiviert hat. Trotz der verschlechterten Sicherheitslage ist die Anerkennungsquote bei türkischen Asylanträgen signifikant gesunken. Nur 5,2 Prozent der Antragsteller erhielten im vergangenen Halbjahr einen positiven Bescheid.

Die Situation dürfte sich allerdings ändern, denn die Daten wurden noch vor dem Putschversuch in der Türkei Mitte Juli erfasst – seither hat die Regierung in Ankara eine regelrechte Hexenjagd auf vermeintliche Putschisten, Andersdenkende und Kritiker der Regierung von Staatschef Recep Tayyip Erdoğan gestartet. Die zunehmende Härte der Regierung in Ankara wird zwangsläufig – sofern die Asylbehörden ihre bisherigen Standards nicht über Bord werfen – in höheren Anerkennungsraten resultieren.

Diese Entwicklung ist ein weiteres Problem für den ohnehin fragilen türkisch-europäischen Pakt zur Eindämmung der Flüchtlingskrise. EU und Ankara haben im März vereinbart, dass die Türkei Migranten von der Überfahrt nach Europa abhält und Flüchtlinge aus Griechenland zurücknimmt – im Gegenzug wurden Geld, die Beschleunigung der EU-Beitrittsgespräche sowie Visumfreiheit für Türken zugesagt. Letzter Punkt ist aus türkischer Perspektive besonders wichtig – und in EU-Hauptstädten besonders umstritten. Die jüngste Entwicklung stellt die Aufhebung der Visumpflicht noch mehr infrage.

Fristen verkürzt

Der Grund dafür trägt die Amtsbezeichnung (EG) 539/2001 – diese Verordnung aus dem Jahr 2001 regelt die Visumpflichten für Drittstaatsangehörige. Wenige Wochen nach der Verkündung des Flüchtlingspakts mit der Türkei wurde der Gesetzestext novelliert. Die Änderungen betrafen die Bedingungen und Fristenläufe für die Wiedereinführung der Visumpflicht: Konkret wurde der Beobachtungszeitraum, anhand dessen die Entscheidung gefällt werden kann, von sechs auf zwei Monate und die Dauer des Entscheidungsprozesses auf einen Monat verkürzt.

Unausgesprochener Grund für die Änderung war die Sorge, dass zu viele Türken versuchen könnten, nach dem Ablauf des dreimonatigen Aufenthaltsrechts in der EU zu bleiben, bzw. dass Migranten über die Türkei nach Europa einreisen könnten. Doch ein Passus in der Verordnung bezieht sich explizit auf Asylwerber: Ein „substanzieller Anstieg der Asylanträge von Bürgern eines Drittstaats, dessen Anerkennungsrate niedrig ist“ – was auf die Türkei zutrifft –, gilt nämlich ebenfalls als Grund für die Aufhebung der Visumfreiheit. Hält der in Deutschland beobachtete Trend also an, müsste die EU drei Monate nach der Einführung des visumfreien Reisens ihren Beschluss wieder suspendieren. (la)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.08.2016)

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