Junge Chinesen: "Wir wollen keine Revolution"

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Harte Konkurrenz, grassierende Ungleichheit, eine zerstörte Umwelt: Junge Chinesen sind sich der Probleme in ihrem Land bewusst. Wie viele aus der Mittelklasse möchten sie aber vor allem eines: ein komfortableres Leben.

„WeChat oder Alipay?“, fragt der Kellner. „Beides okay“, antwortet Xujing und scannt mit ihrem Smartphone den QR-Code an der Kassa. Wie viele junge Chinesen zahlt sie lieber mit dem chinesischen WhatsApp oder dem Online-Bezahlsystem des Internetriesen Alibaba als mit Bargeld. 60 Yuan, rund acht Euro, kosten zwei Getränke in dem hippen Café auf dem Campus der Pekinger Fremdsprachenuniversität – beim Imbiss ums Eck wird man für einen Bruchteil satt. Auch in China sind Coffeeshops mit Kaffee zum Mitnehmen, Kuchen und Smoothies auf dem Vormarsch. Mittlerweile suchen hier nicht nur Laowai, wie Westler auf Chinesisch heißen, Zuflucht vor Hitze und Smog in den Straßen der Hauptstadt. Auch immer mehr Einheimische gönnen sich diese Abstecher in den westlichen Lebensstil.

Sie habe sich ihren Shake heute selbst finanziert, berichtet die 21-Jährige stolz, und nicht mit dem Geld ihrer Eltern. Seit Kurzem gibt die Englisch-Studentin Nachbarskindern Sprachunterricht. Mit elf Euro pro Stunde verdiene sie relativ gut. Eltern in China wenden Unsummen auf, um ihren meist einzigen Kindern eine bessere Zukunft zu gewähren. Gute Englischkenntnisse sind nur der Beginn: Hochschulbildung boomt. Sie gilt als Ticket für den Nachwuchs, in die rasant wachsende Mittelklasse aufzusteigen.

Auch Xujings Eltern wollten, dass sie studiert. Sie selbst erhielten keine Schulbildung. „Mir ist unangenehm, dass sie so viel Geld für mich ausgegeben haben. Es ist Zeit, dass ich ihnen etwas zurückgebe.“ Vor zwanzig Jahren zog die Familie aus einem kleinen Dorf der ostchinesischen Provinz Henan nach Peking. Als Verkäufer hielten sich die Eltern über Wasser, leisteten sich eine eigene Wohnung und finanzierten ihrer Tochter die Ausbildung. Heute studiert sie an einer der renommiertesten Fremdsprachenuniversitäten Chinas. Für ihren Traum, ein Gesangsstudium, reichte das Geld nicht. „Ich denke, das wäre zu luxuriös gewesen.“

Zwar ist die quirlige Chinesin erfolgreicher als ihre Kollegen auf dem Land: Weniger als zehn Prozent der Jugendlichen besuchen dort die Oberstufe, in der Stadt ist es jeder Siebente. Doch das Stadtleben ist für Xujing mit Schwierigkeiten verbunden. In der Provinz geboren, hat sie keinen Anspruch auf das Pekinger Hukou, das Haushaltsregister – und damit kein Anrecht auf Sozialleistungen und öffentliche Bildung. Ohne ihre Eltern kehrte Xujing daher für die Oberstufe nach Henan zurück. Nur so konnte sie sich für ein Studium qualifizieren. „Mit einem Pekinger Hukou hätte ich vielleicht auf eine bessere Uni gehen können“, meint sie. Arme Provinzen investieren weitaus weniger in Schulen als reichere Küstenstädte. Zudem bevorzugen Quoten- und Punktesysteme lokale Schüler: Um etwa auf Chinas Harvard, die Peking-Universität, zu kommen, müssen Migranten bei der Schulabschlussprüfung Gaokao wesentlich besser als Einheimische abschneiden.

Auch auf dem Arbeitsmarkt hat Xujing in Peking schlechte Chancen: Viele private Arbeitgeber diskriminieren Bewerber mit einem Land-Hukou. Die junge Frau hofft daher, in einem Staatsbetrieb unterzukommen – auch wenn das Gehalt hier wesentlich niedriger ist. „Wäre ich Politiker und hätte Macht, würde ich definitiv das Pekinger Hukou abschaffen“, erklärt sie. So viele Menschen kämen für eine bessere Zukunft in die Hauptstadt. „Wir sind alle Chinesen, wir teilen die gleichen Rechte. Dennoch gibt es so viele Unterschiede zwischen Pekingern und Menschen anderer Bezirke.“ Als Migrant in der Hauptstadt zu überleben sei nicht einfach, meint Xujing. Derzeit sind acht Millionen der 22 Millionen Einwohner nicht im städtischen Hukou. Allein die Wohnungssituation sei prekär: Hunderttausende können sich nur die Miete für einen kleinen Raum im Kanalisationssystem leisten.


Arm und Reich. „Obwohl mein Land sozialistisch ist, gibt es noch immer einen Klassenunterschied. Vielleicht will die Regierung nicht darüber sprechen, aber in Wahrheit sind die reichen Leute wirklich reich und die armen Leute wirklich arm.“ So besitzt das top eine Prozent der Haushalte in China rund ein Drittel des nationalen Vermögens. Weltweit zählt China heute zu den Ländern mit der größten Ungleichheit der Welt. Nicht nur das Stadt-Land-Gefälle ist weiterhin enorm: Stadtbewohner verdienten 2015 2,7-mal so viel wie die Landbevölkerung. Auch die obere Mittelklasse galoppiert dem unteren Ende davon, schreibt die Boston Consulting Group. Selbst ein Studienabschluss ist heute kein Freibrief mehr für eine sichere Zukunft. Für viele Studenten sei es schwierig, einen Beruf zu finden, der ihren Qualifikationen entspreche, erzählt die 20-jährige Min – außer sie haben auf einer von Chinas Topuniversitäten studiert. Der Konkurrenzdruck unter Absolventen wird immer härter: 2015 erlangten in China sieben Millionen Studenten einen Universitätsabschluss, 2000 waren es eine Million.

Auch die Niederländisch-Studentin aus der Provinz Hebei wünscht sich ein faireres Uni-Zugangssystem. Wie ihre Freundinnen Yichi und Zhangmei studiert sie an der staatlichen China-Kommunikationsuniversität. Während viele Studenten in den Ferien nach Hause fahren, besuchen sie jeden Tag einen mehrstündigen Sommerkurs. Auch ihre Eltern haben studiert. Seitdem habe sich viel geändert, sind sich die jungen Frauen einig. Sie hätten viel mehr Chancen als die Generation vor ihnen. Daher seien sie mit der derzeitigen Situation in China zufrieden. „Wir haben mehr Möglichkeiten zu studieren, mehr Möglichkeiten unser Leben zu genießen“, sagt Yichi, die ebenfalls Niederländisch studiert. „China hat sich sehr schnell entwickelt. In so kurzer Zeit können wir heute alles bekommen“, erklärt sie – etwa auf dem eBay-Pendant Taobao einkaufen oder den Fahrtendienst Didi Chuxing nutzen.

Sie gehe gern ins Kino, erzählt die 19-jährige Huijie. Ihre Eltern hätten in ihrer Jugend selten Gelegenheit gehabt, sich Filme anzusehen oder Karaoke zu singen, erzählt sie. „Sie haben viel härter gearbeitet. Trotzdem haben sie nicht die Dinge erreicht, die sie verdient haben.“ Hinzu komme: Sie würde sicher mehr als ihre Eltern verdienen. Seit 2000 ist das Pro-Kopf-Einkommen jährlich um 15 bis 20 Prozent gestiegen. Selbst mit dem mäßigeren Wirtschaftswachstum werden Löhne und Gehälter heuer um bis zu zehn Prozent wachsen.

Doch mit dem höheren Lebensstandard sehnt sich Chinas Mittelklasse nach mehr als materiellem Komfort. Das stellt die kommunistische Partei, deren Legitimität jahrzehntelang auf zweistelligen Wachstumsraten fußte, vor neue Herausforderungen.

„Junge Leute sollten sich auf das Schöne im Leben fokussieren, nicht nur auf Geld und Status“, meint Yichi. Die Freundinnen sind sich einig: Außer der Kluft zwischen Arm und Reich sei die Umweltverschmutzung ein großes Problem. Der Smog wirke sich auf die Stimmung aus. „Die Menschen fühlen sich niedergeschlagen.“ Yichi wünscht sich zudem mehr Offenheit im Bildungssystem. „Wir sollten mehr Quellen aus dem Ausland nutzen und von westlichen Ländern lernen“, meint sie – etwa im Umweltschutz. Für ihr Studium konsumiere sie häufig ausländische Medien im Internet. Auf gesperrte Seiten zu kommen hätte sie jedoch noch nie versucht. Manchmal würde sie gern Facebook oder Google ausprobieren, verrät Huijie. Dass manche Ausländer dachten, die Internetzensur sei für sie eine Einschränkung, verstehe sie allerdings nicht.

Härte gegen Aktivisten. Der Kritik, die chinesische Internetnutzer auf sozialen Medien an der Regierung üben, können die jungen Frauen nichts abgewinnen: Anstatt zu schimpfen, sollten sie lieber handeln, sagen sie. Chinas Regierung geht gegen diese Kritiker mit Härte vor. Seit Monaten führt sie eine Kampagne gegen Blogger, Medien und Menschenrechtler – mit Verhaftungen, Verurteilungen und erzwungenen Geständnissen. Unter Staatschef Xi Jinping hat die Verfolgung von Demokratieaktivisten und KP-Gegnern zugenommen.

Das Konzept, mit dem Xi die Chinesen für die KP-Herrschaft gewinnen will, stellte er bei seinem Amtsantritt 2012 vor: Es sieht unter anderem bis 2021 eine „moderat wohlhabende Gesellschaft“ und damit eine bessere Lebensqualität für Chinas Bevölkerung vor. Die Regierung könne dieses Ziel erreichen, sind die drei Studentinnen überzeugt – auf ihre eigene Art: Westliche Demokratie sei nichts für China, sagen sie. „Jedes politische System hat seine Schwächen. China hat einen völlig anderen geschichtlichen und kulturellen Hintergrund. Wir müssen unser Land auf unsere Weise besser machen“, erklärt Huijie. „Wir wollen keine Revolution.“ Wie viele andere aus Chinas Mittelklasse wollen sie vor allem eines: ein komfortables Leben.

zahlen

225Millionen Mittelklasse-Haushalte soll es laut der Beratungsfirma McKinsey in China geben. 2000 waren es fünf Millionen.

26,2Millionen Studenten inskribierten sich 2015 an Chinas Hochschulen. 1998 waren es noch 3,4 Millionen.

6070Yuan pro Monat verdienten Angestellte in Chinas Städten 2015. Das sind gut 820 Euro. Am höchsten sind die Gehälter in Peking.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.08.2016)

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