Le Corbusier und die Grünen: Ein Lehrstück über das Vergessen

Wenn es um den eigenen Einfluss geht, befällt auch jene, die gern als Gralshüter der zeitgeschichtlichen Korrektheit posieren, eine bemerkenswerte Amnesie.

Der Jubel war ungetrübt. Mitglieder der Landesregierung von Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg zeigten sich erfreut, und der grüne Oberbürgermeister von Stuttgart, einst ein Juso, lobte die „wegweisende Entscheidung“ und „den wichtigen Ansporn“. Das deutsche Feuilleton blähte stolz die Brust. Was war geschehen?

Die Unesco hatte im Juli bei ihrer Tagung 17 Bauten von Le Corbusier, darunter die Stuttgarter Weißenhofsiedlung, zum Weltkulturerbe ernannt. Der Architekt habe „eine neue Architektursprache gefunden, die mit der Vergangenheit bricht“, hieß es in der Begründung. In der Folge gewann man den Eindruck, dass auch der Stuttgarter Oberbürgermeister, gleich dem gefeierten Architekten, eine neue Sprache gefunden und mit der Vergangenheit gebrochen habe. Wie in die Begeisterung der Medien mischte sich auch in seinen Stolz kein bisschen Nachdenklichkeit.

Er, der erste grüne Oberbürgermeister einer Landeshauptstadt, hatte einst im Bundestag flammende Reden gegen Rassismus und Antisemitismus gehalten. Nun schien er angesichts der Auszeichnung durch die Unesco von einer selektiven Wahrnehmung befallen. Le Corbusier nämlich, den er als Vorbild für die heutige Architektengeneration pries, hatte durchaus eine sehr persönliche Seite.

Wie bei unzähligen anderen Berühmtheiten gibt es auch im Lebenslauf des schweizerisch-französischen Jahrhundertkünstlers dunkle Flecken. Le Corbusier suchte nach politischer Gunst. Seine Bemühungen um das Vichy-Regime sind in mehreren Biografien dokumentiert. Von unbändigem Gestaltungsdrang beseelt, umwarb er alle, von denen er sich eine Verwirklichung seiner Visionen erhoffte. Er war nach Vichy übersiedelt, um der Kollaborationsregierung unter Pétain nahe zu sein. Eine Entourage aus fast ausnahmslos weit rechts stehenden Personen half ihm dabei.

Die kannten ihn. Einst hatte er die „nationale Revolution“ gelobt und eine – weitgehend bedeutungslose – faschistische Splitterpartei mitbegründet. 1940 berichtet er begeistert von „Erneuerung, Reinemachen und Säuberung“: „Die Geldsäcke, die Juden – die zum Teil schuldig sind –, die Freimaurerei, alles wird dem gerechten Gesetz unterworfen. Diese schändlichen Festungen werden geschleift. Sie beherrschten alles.“

In Vichy trifft er sich mit Pétain, schickt signierte Bücher an Mussolini und bittet um die Stadtplanung von Addis Abeba. Obwohl er zum Verantwortlichen für Städtebau ernannt wird, erhält er keine nennenswerten Architekturaufträge. Enttäuscht verabschiedet er sich mit „Adieu, liebes, beschissenes Vichy“ und wird Berater von Nobelpreisträger Alexis Carrel. Der hatte 1935 im deutschen Vorwort seines Weltbestsellers, „Der Mensch, das unbekannte Wesen“, die Maßnahmen der NS-Regierung gegen Minderwertige und Verbrecher gelobt. Sein Mitarbeiter Le Corbusier am 31. Oktober 1940: Hitler kann „sein Leben mit einem großartigen Werk krönen: die Raumordnung Europas.“

Auch die Seuche des Antisemitismus machte vor dem Architekten nicht halt. Zwar sei die Behandlung der Juden hart, aber sie seien „zum Teil mitschuldig, weil sie durch das Geld das Land verdorben“ hätten. Erst kurz vor der Befreiung von Paris geht ihm ein Licht auf: „Das Blatt wendet sich, man kommt nicht umhin, es einzugestehen.“

Der Rest seines Lebens ist Legende: Le Corbusier hat die Architekturgeschichte mit seinen Bauten, Plänen und Büchern geprägt wie kaum ein anderer Zeitgenosse. Sein unkritisches Verhältnis zu den Antidemokraten und Diktatoren seiner Zeit reicht nicht aus, um über sein Werk den Stab zu brechen. Vom bundesdeutschen Feuilleton jedoch, das immer wieder eine überlegene Geschichtsaufarbeitung behauptet, und den Grünen, die bei jeder Gelegenheit als Lordsiegelbewahrer der politischen Moral auftreten, hätte man sich zu den weltanschaulichen Torheiten des Genies Le Corbusier eine winzige Fußnote erwartet.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Kurt Scholz war von 1992 bis 2001
Wiener Stadtschulratspräsident, danach bis 2008 Restitutionsbeauftragter der Stadt Wien. Seit Anfang 2011 ist er
Vorsitzender des Österreichischen
Zukunftsfonds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2016)

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