Die Türkei-Frage spaltet die EU

(c) REUTERS (MURAD SEZER)
  • Drucken

Kanzler Kerns Forderung nach Abbruch der Gespräche findet auch in Dänemark Zustimmung. Der deutsche Außenminister fordert Augenmaß bei der Türkei-Kritik.

Ankara/Brüssel. Die Zahlen ändern sich mit jedem Tag. Seit Mitte Juli sind in der Türkei Zehntausende Staatsbedienstete, Militärangehörige, Polizisten, Journalisten, Wissenschaftler und Ärzte suspendiert, festgenommen und teilweise wieder freigelassen worden. Die aktuellen Daten veröffentlichte Justizminister Bekir Bozdağ am Dienstag: Demnach sind seit dem gescheiterten Putsch in der Nacht auf den 16. Juli insgesamt 16.000 Haftbefehle erlassen worden. In weiteren 6000 Fällen stehe die Entscheidung noch aus, weitere 7700 Verdächtige seien auf freiem Fuß.

Die regierende AKP vermutet den in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen hinter dem Putsch. Einer Auslieferung Gülens hat Washington bisher nicht zugestimmt, und so warnte Bozdağ erneut vor der Verschlechterung bilateraler Beziehungen: „Wenn die USA nicht ausliefern, werden sie ihre Beziehungen zur Türkei für einen Terroristen opfern.“ Mit den massenhaften Entlassungen und Verhaftungen hat sich Ankara auch scharfe Kritik von Brüssel eingehandelt. So haben EU-Vertreter Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Verhaftungen geäußert, der österreichische Bundeskanzler, Christian Kern, hat gar den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen verlangt und europaweit Zustimmung geerntet.

Visafreiheit derzeit kein Thema

In dieser Frage bleibt die Union dennoch gespalten. Während nun auch die konservative Regierung Dänemarks sowie der Vizepräsident des Europaparlaments, Alexander Graf Lambsdorff, für den Gesprächsabbruch plädiert haben, forderte der deutsche Außenminister, Frank-Walter Steinmeier (SPD), Augenmaß „bei aller berechtigten Kritik“ ein: „Wir müssen erkennen – und das geht bei der deutschen Debatten unter – dass diejenigen, die den Putsch durchgeführt haben, mit größter Brutalität vorgegangen sind, gegen Zivilisten, gegen das Parlament.“ In dieselbe Kerbe schlug der außenpolitische Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt; gerade durch die Beitrittsgespräche würden rechtsstaatliche Prinzipien in der Türkei auf den Tisch kommen.

Einen EU-Beitritt der Türkei sehen aber die allermeisten Beobachter nicht in greifbarer Nähe. Steinmeier wies nochmals darauf hin, dass der visafreie Zugang in den Schengen-Raum für türkische Staatsbürger ebenfalls nicht zur Debatte stehe. Das hat der EU/Türkei-Flüchtlingsdeal eigentlich vorgesehen, aber Ankara verweigert die von Brüssel geforderten Reformen der Anti-Terror-Gesetze – insbesondere seit dem gescheiterten Putsch. (ag.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.08.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Karas
Außenpolitik

Türkei: Karas unterstellt Kanzler Kern "Provokation"

"Wir müssen rhetorisch abrüsten", sagte der ÖVP-Delegationschef in Richtung seines Parteikollegen Kurz. Einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen lehnt Karas ab.
Burhan Kuzu PUBLICATIONxNOTxINxTUR
Innenpolitik

Erdogan-Chefberater twittert an Kern: "Verpiss dich"

Burhan Kuzu startete laut "krone.at" einen verbalen Angriff gegen Österreichs Bundeskanzler. Die Türkei ist über Haltung Österreichs zu EU-Beitrittsgesprächen mit dem Land verstimmt.
German Economy Minister Sigmar Gabriel arrives for a television interview in front of the Reichstag building in Berlin
Außenpolitik

SPD-Chef Gabriel gegen Abbruch der Verhandlungen mit Türkei

Dass die Türkei in zehn oder 20 Jahren Vollmitglied der Europäischen Union werden könne, glaubt der deutsche Vizekanzler jedoch nicht.
AM KURZ IN LONDON: KURZ
Politik

Kurz gegen neue Verhandlungskapitel mit der Türkei

Außenminister Sebastian Kurz will ein Veto gegen das Eröffnen weiterer Kapitel in den EU-Verhandlungen mit Ankara einlegen.
PK NACH FP�-VORSTAND: VILIMSKY
Außenpolitik

Vilimsky: Keine Beitrittsoption für die Türkei

Die Türkei sei "weder kulturell noch geografisch ein Teil Europas", heißt es in der samstägigen Aussendung des FPÖ-EU-Parlamentariers Harald Vilimsky.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.