Türkei: Die etwas überschätzte Wirtschaftsmacht

(c) REUTERS (OSMAN ORSAL)
  • Drucken

Die türkische Wirtschaft ist derzeit in sehr hohem Ausmaß auf Exporte in die EU und auf Kapitalflüsse aus Europa angewiesen. Die damit ausgelösten hohen Wachstumsraten dürften aber vorerst Geschichte sein.

Wien. „So wichtig ist die Türkei für die deutsche Wirtschaft“, titelte Spiegel Online zu Beginn der Woche. Und musste sich in Leserkommentaren dann die Frage gefallen lassen, ob man im Titel nicht ein „un“ vor dem „wichtig“ vergessen habe. Denn gerade einmal 1,8 Prozent der deutschen Exporte gehen in das Land am Bosporus, womit die Türkei an Stelle 14 in der Liste der deutschen Topexportdestinationen liegt.

Noch krasser sieht es in Österreich aus: 1,4 Mrd. Euro Exportvolumen in die Türkei machen nur 1,07 Prozent des gesamten Exportwerts aus. Selbst auf EU-Ebene ist die Abhängigkeit einseitig: 4,4 Prozent der EU-Ausfuhren gehen in die Türkei, während die EU gleichzeitig rund 48 Prozent des gesamten Exports der Türkei aufnimmt.

Die Zahlen zeigen, dass die Türkei wirtschaftlich – obwohl G20-Mitglied – alles andere als eine Großmacht ist. Das BIP ist beispielsweise nur rund doppelt so groß wie das österreichische, obwohl die Türkei fast zehnmal so viele Einwohner hat.

Allerdings ist das Potenzial des 80-Millionen-Einwohner-Landes gewaltig. Falls die hohen Wachstumsraten der vergangenen Jahre weitergehen. Das wird jetzt allerdings immer mehr in Zweifel gezogen. Im ersten Halbjahr, also bereits vor dem Putschversuch, haben europäische Investoren immer stärker Zurückhaltung gezeigt. Einige, etwa die österreichische Post, sind dort in Schwierigkeiten mit einheimischen Miteigentümern geraten, andere, etwa die OMV, sind gerade dabei, ihr Engagement im Land deutlich zu verringern.

Österreichische Unternehmen waren in den vergangenen Jahren übrigens die drittgrößte Investorengruppe in der Türkei. Zudem wird der Zuwachs dadurch gebremst, dass die Löhne zuletzt sehr stark gestiegen sind und die Lohnkosten bereits die der EU-Länder Bulgarien und Rumänien übertreffen.

Das ist vor allem für jene Konzerne ein Problem, die aus Kostengründen verlängerte Werkbänke in der Türkei eingerichtet haben. Ford, Renault, Fiat, Peugeot und Opel beispielsweise betreiben hier Automontagewerke, MAN und Mercedes produzieren in der Türkei Lastwagen. An vollständigen Rückzug denkt freilich keiner, denn der türkische Inlandsmarkt (der derzeit rund ein Drittel der Produktion abnimmt) wächst flott, und auch der Iran gilt als Hoffnungsmarkt, der von der Türkei aus beliefert werden könnte.

Die Autoindustrie ist, wenngleich praktisch ausschließlich montiert wird und Zulieferteile gefertigt werden, demnach auch zu einem der wichtigsten Devisenbringer (neben dem Tourismus sowie Bekleidungs- und Früchteexporten) geworden.

Sollte sich die Türkei jetzt tatsächlich auch wirtschaftlich von Europa abwenden, dann sind die Alternativen angesichts der EU-Dominanz bei den türkischen Exporten begrenzt. Der mit Abstand zweitwichtigste Handelspartner ist Russland. Die Außenhandelsstruktur ist hier aber wesentlich weniger diversifiziert wie jene mit der EU. Hauptimportgüter sind Erdöl und vor allem Erdgas (da ist die Türkei hinter Deutschland der zweitgrößte Gazprom-Kunde). In die Gegenrichtung gehen überwiegend Textilien und bearbeitete Früchte. Und: Die Russen sind hinter den Deutschen die zweitwichtigste Touristengruppe. (red./ju)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Wirtschaftskommentare

Die Türkei ist ein ökonomischer Zwerg

Ankara ist wirtschaftlich in sehr hohem Maß von Europa abhängig.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.