Warum sollen sich Antisemiten über Judenmorde empören?

Kollegin Sibylle Hamann kann nicht verstehen, dass sich nicht mehr Muslime gegen islamischen Terror wehren. Dabei ist das nicht so schwer zu erklären.

Einer überaus interessanten Frage ist Kollegin Sibylle Hamann in ihrer „Quergeschrieben“-Kolumne vom 10. August nachgegangen, ohne so recht zu einer klaren Antwort zu kommen. „Was ich jedoch ganz und gar nicht verstehen kann: dass sich die Millionen friedliebenden, rechtschaffenen, gläubigen Muslime in aller Welt nicht viel heftiger dagegen wehren, was Terroristen da mit ihrem Glauben anstellen“, schreibt sie.

Und weiter: „Will man seinen Gott nicht gegen seine perversen Fans verteidigen? [. . .] ,Niemand tötet in meinem Namen!‘, müsste auf den Transparenten stehen, die Muslime in aller Welt millionenfach in die Höhe halten. ,Unser Gott ist nicht euer Gott!‘, müssten Prediger, Politiker, Gelehrte oder sonstige Volkstribune dem IS zurufen. Oder: ,Ihr seid keine Muslime!‘“

Tatsächlich, das hat Kollegin Hamann völlig richtig beobachtet, ist die öffentliche Empörung in den islamischen Gemeinschaften über im Namen ihrer Religion verübte Verbrechen im Normalfall eher überschaubar, während sogar völlig harmlose Mohammed-Karikaturen Millionen Muslime auf die Straße treiben.

Und warum ist das so? Möglicherweise, weil die Weltanschauungen der meisten Muslime nicht ganz ident sind mit jenen von Kollegin Hamann. Möglicherweise sind diese Weltanschauungen partiell sogar eher problematisch, was freilich im linken Milieu nicht so gern gehört wird. Denn das anzuerkennen würde ja unter anderem der dort populären Refugees-welcome-Ideologie doch ernsthaft das Wasser abgraben.

So wurde etwa in diesem Frühjahr unter britischen Muslimen repräsentativ erhoben, was sie so für Ansichten vertreten. Das Ergebnis war bemerkenswert:
• 23 Prozent meinen, dass in Großbritannien nach der Scharia gelebt werden soll und britische Gesetze sich dem unterzuordnen hätten.
• 52 Prozent sind dagegen, dass Homosexualität legal ist.
• 35 Prozent denken, dass Juden „zu viel Macht im Land“ haben (ein klassischer Antisemitismus-Indikator).
• Fünf Prozent halten Steinigung als Sanktion bei Ehebruch für legitim.
• Besonders delikat: Vier Prozent vertreten den Standpunkt, Selbstmordanschläge seien im Kampf gegen „Unrecht“ gerechtfertigt. Umgelegt auf die britische muslimische Population wären das also etwa 100.000 Personen, die Suizidanschläge explizit billigen.

Das beunruhigte selbst jeglichen Rassismus völlig unverdächtige Politiker. Der linke Autor und ehemalige Labour-Politiker Trevor Philips, langjähriger Vorsitzender der britischen Gleichstellungs- und Menschenrechtskommission, konstatierte angesichts dieser Werte: „Hier ist eine Nation innerhalb der Nation entstanden, die ihre eigenen Werte und ihre eigene, von der Mehrheitsgesellschaft stark unterschiedliche Zukunft hat.“

Dass eine Population, deren grundlegende Wertevorstellungen derart religiös-fundamentalistisch grundiert sind, den Kampf gegen die „Kuffar“ (Ungläubigen) etwas entspannter sieht und nicht wegen jeder Bestrafung eines Kuffar gleich große Demos veranstalten, überrascht irgendwie nicht sehr.

Dass eine Population, die Homosexualität mehrheitlich für verwerflich hält, nach dem mörderischen Anschlag auf einen Schwulenclub in den USA sich nicht öffentlich darüber empört, ist auch nachvollziehbar. Dass es eher so etwas wie klammheimlichen Beifall unter orthodoxen Muslimen gegeben hat, ist schon eher anzunehmen. Schließlich werden Schwule im Iran oder in Saudiarabien ja auch unter Berufung auf die Gebote von Staats wegen getötet.

Das Gleiche gilt für den in der arabisch-muslimischen Welt massenhaft verbreiteten Antisemitismus. Wer dort sozialisiert worden ist, wird eher nicht stark motiviert sein, nach einem Blutbad wie jenem im jüdischen Pariser Supermarkt auf die Straße zu gehen, um „seinen Gott gegen seine perversen Fans zu verteidigen“. So schwer zu verstehen ist das doch eigentlich nicht, oder?

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Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des
Neoliberalismus“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.08.2016)

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