Die rätselhafte Villa E 1027

E 1027, gestaltet von Eileen Gray, erbaut für den Geliebten (1927–1929).
E 1027, gestaltet von Eileen Gray, erbaut für den Geliebten (1927–1929).(c) MANUEL BOUGOT
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Hausgeschichte. Nicht Le Corbusier, sondern die Designerin Eileen Gray allein schuf und gestaltete ein Haus in Roquebrune-Cap-Martin an der Côte d'Azur, das seiner Zeit weit voraus war.

Die Stelle, wo heute 30 Meter über dem Meer die Villa E 1027 auf einem Felsen thront, erreichte Miss Gray zu Fuß, ihr Gepäck transportierte sie auf einem Esel. Den Kaufvertrag für das Grundstück unterzeichnete Jean Badovici, ihr Geliebter. Frauen war es 1924 nicht erlaubt, Geschäfte abzuschließen. Das Geld dafür auszulegen schon. Die rätselhafte Buchstaben- und Zahlenkombination gilt als Akronym für die Bauherren: Eileen Gray und Jean Badovici – die irische Adelige und der aus Bukarest stammende Architekturkritiker. Das E ist das Initial von Eileen, die 10 verweist auf das J von Jean – den zehnten Buchstaben des Alphabets – die 2 steht für das B von Badovici, die 7 für das G von Gray. Aber auch E 1027 LC könnte als Bezeichnung durchgehen, denn als unsichtbarer Dritter drückte Le Corbusier dem Haus, das ihm fälschlicherweise lange Zeit zugeschrieben wurde, seinen Stempel auf. Dass er 1965 beim Schwimmen in der nahen Bucht ums Leben gekommen ist, verbindet seinen Namen mit dem Ort.

Im Vorjahr wurde die Villa in Roquebrune-Cap-Martin für Besucher geöffnet. Seit 1999 befindet sie sich im Besitz des Conservatoire de l'espace littoral, einer Institution des französischen Umweltministeriums zum Schutz der Küstenlandschaft. Die Restaurierung, die 2008 begonnen hat, hat sich als schwierig erwiesen, die Meinungen – das Ergebnis betreffend – gehen auseinander. Drei Jahre – von 1926 bis 1929 – beschäftigte Gray, die Autodidaktin, sich mit dem Bau, fertigte Skizzen an, baute Modelle und beobachtete Gezeiten, Windsituation und Einfall des Sonnenlichts. Ihr Haus sollte im steten Austausch mit der Natur sein. Gedacht als Geschenk an den Geliebten, gehört es heute zu den zehn bedeutendsten Villen der Moderne.

Im Eingang liest man die Textzitate „Défense de rire” („Lachen verboten”) und „Entrez lentement” („Langsam eintreten”), eine Art Vorwarnung für Besucher, die sich an den Materialien hätten stoßen können: Kork, Aluminium, verchromtes Stahlrohr – das hatte man bis dato bei Interieurs noch nicht gesehen. Auch Le Corbusiers Stahlrohrmöbel LC1 bis LC7 gingen erst 1929 in Produktion, da stand der runde Glastisch mit verstellbarem Fuß – Adjustable table E 1027 – bereits an seinem Platz.

Fließendes Kontinuum

Nach dem Prinzip des freien Grundrisses auf Stützpfeilern errichtet, ist das „Sommerhaus am Meer” um einen zentralen Raum herum angeordnet, der von einem kursiv verlaufenden Balkon umgeben ist. Eine glasüberdachte Treppe führt auf das Dach, das auch als Terrasse dient. Die durch Le Corbusier formulierten „5 Punkte zu einer neuen Architektur“ finden sich hier wieder, weiterentwickelt durch Eileen Grays gestalterisches Gespür und ihren Sinn für Funktionalität und Komfort: Die Metallfenster etwa lassen sich wie eine Ziehharmonika zusammenfalten und lösen so die Grenzen zwischen Innen- und Außenraum auf. Die Stoffplanen davor bewegen sich auf Schienen und sorgen im Sommer für kühle Luft und im Winter für Wärme durch Sonneneinstrahlung.

Nichts aus bürgerlicher Wohnkultur Überliefertes findet sich auf diesen 88,2 Quadratmetern. Dafür zahlreiche Details, wie die neben dem Kamin in die Wand eingelassene Klappe, die geöffnet den Blick auf das Meer freigibt. Der Raum wirkt als fließendes Kontinuum, die unterschiedlichen Nutzungsbereiche kennzeichnen verschiedenfarbige Fliesen auf dem Fußboden, hinter Paravantwänden verbirgt sich Alltägliches wie eine Dusche oder Treppe. Die nach Grays Entwürfen gefertigten Einbaumöbel prägen den Stil gemeinsam mit den heute längst zu Ikonen gewordenen Einzelstücken wie dem Fauteuil Bibendum oder eben dem Beistelltischchen E 1027. Dekoratives fehlt zur Gänze. An der Wand über dem Ruhebett hängt eine Landkarte mit handgeschriebenen Textzitaten.

Die Villa E 1027 ist ein durch und durch privater Ort, keiner der Repräsentation oder des glamourösen Auftritts. Auch wenn der Kinofilm „Price of Desire” es anders darstellt, hat Gray nie gemeinsam mit Le Corbusier hier gewohnt. Als ihre Beziehung mit Badovici zerbricht, schenkt sie ihm 1932 das Haus und setzt nie mehr einen Fuß hinein. Le Corbusier, der ihr Werk zwar überschwänglich gelobt hat, geht rüde damit um: Im Sommer 1938 reist er mit zehn Skizzen im Gepäck an und bemalt die weißen Flächen knallbunt mit Frauenmotiven, unter die er auch ein Swastika-Symbol schwindelt. Ein verstörender Akt des Vandalismus, umso mehr, als seine Nähe zum Vichy-Regime heute bekannt ist.

Cap Moderne

Gray ertrug den Affront mit stoischer Gelassenheit. Sie überlebte Le Corbusier um elf Jahre, die Anerkennung für ihr Werk blieb ihr zu Lebzeiten jedoch verwehrt. Die Villa durchlebte eine wechselhafte Geschichte. Zuletzt hausten Obdachlose darin. Als endlich die Restaurierung bevorgestanden ist, haben sich die Experten gefragt, ob der Originalzustand – das heißt die weißen Wände – wiederhergestellt werden sollte. Man hat sich dafür entschieden, Le Corbusiers Werk als integrativen Bestandteil des Ensembles zu belassen, und bereits einen Antrag auf Eintragung in die Unesco-Weltkulturerbeliste gestellt.

Unter dem Titel Cap Moderne wird der Standort (inklusive Le Corbusiers Badehütte Le Cabanon aus 1952 und den von ihm entworfenen Camping-Einheiten von 1957) touristisch vermarktet. Der Ansturm ist groß. Architekturtouristen quartieren sich im Hotel Le Victoria in Roquebrune ein und pilgern über den Le-Corbusier-Küstenweg zur Villa E 1027, die immer noch nur zu Fuß erreichbar ist.

Info: https://capmoderne.com

(Print-Ausgabe, 13.08.2016)

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