Wer nicht kuschte, ward zerrissen

Zwischen Alphütten und Jauchegruben: Das Teatro Caprile inszeniert „Auf der Flucht“ im österreichisch-schweizerischen Grenzgebiet als „interaktive Theaterwanderung“. Eine szenische Collage aus den „Anschluss“-Jahren.

Die Schauspielerin Maria King, klein und zart, roter Pagenkopf, liegt auf dem Boden einer leeren Jauchegrube und versucht verzweifelt, aus diesem Gefängnis zu entkommen. Sie zittert, immer wieder streckt sie eine Hand zum Grubenrand, dann fällt sie zurück auf den kalten Beton. Um die Grube stehen an diesem verregneten Sommermorgen auf der Ronggalpe oberhalb von Gargellen, auf 1640 Meter Seehöhe, ein gutes Dutzend Zuschauer und ebenso viele Kühe. Die Menschen schauen auf dieses Bild menschlichen Elends hinunter, oder sie schauen weg. Nur die Kühe fressen unbeeindruckt weiter, leise bimmeln die Glocken um ihre Hälse. Eine zweite Schauspielerin, Katharina Grabher, auch sie klein und zart, durchbricht die Stille der Bergkulisse mit Worten von Jean Améry: „Erniedrigung macht niedrig. Das ist ein Seelengesetz. Der Gegenstand einer anhaltenden Grausamkeit rechtfertigt diese am Ende. Darin liegt eine der härtesten Härten des Lebens.“ Auf der Jauchegrube ist eine Jahreszahl eingraviert: 1938.

Die bitteren Sentenzen Amérys gehören zur zweiten Szene von „Auf der Flucht“, einem Stück des Wiener Teatro Caprile, das diese Produktion als „interaktive Theaterwanderung“ inszeniert. Es sind die ersten Tage nach dem „Anschluss“. Zehntausende Österreicher sind bereits verhaftet. Viele andere suchen ihr Heil in der Flucht, doch immer mehr Wege sind versperrt. Immerhin bleibt die Schweiz als Zufluchtsort. Falls die österreichischen Gendarmen oder die Schweizer Grenzer einen nicht verhaften oder zurückschicken nach Österreich, ins Lager, ins Verderben, vielleicht in den Tod. In vielen Fällen ging die Flucht über Gargellen, den höchst gelegenen Ort im Montafon. Dann weiter über Ronggalpe, Röbialpe, Sarotlaalpe, schließlich das Sarotlajoch (2389 Meter) bis in die Schweiz.

Teatro Caprile zeichnet diesen Fluchtweg szenisch nach – minimalistisch und bisweilen erschreckend wirkungsvoll. Da sind zwei Lehrerinnen, über deren Fluchtversuch durch die Bergwelt des Montafons nichts Genaues bekannt ist außer ein paar Zeitzeugenberichte; da ist ein bürgerliches jüdisches Ehepaar, das verschämt im traditionsreichen Jugendstilhotel „Madrisa“ in Gargellen anklopft, historisch tatsächlich Zwischenstation mancher Fluchtgeschichte. Da sind ein jüdischer Rechtsanwalt (Mark Német) und ein Theaterkritiker (Andreas Kosek), beide hungrig, desillusioniert, verzweifelt. Sie reflektieren in einem glänzend hellsichtigen Dialog (entnommen Franz Werfels Romanfragment „Cella oder Die Überwinder“) über das Deutsche Reich. Über jene „Revolution gegen den Geist“, gegen „Denken und Lesen“, die „Aufnordung Wiens“, die erfolgreich gewesen sei, weil „Niedrigkeit anziehend wirkt“, wie die Nazis richtig erkannt hätten.

Werfel wählte für seine Flucht bekanntlich die Pyrenäen-Route. Jura Soyfer hingegen, der politische Dichter, der seit 1920 in Wien lebte und für sozialistische Zeitschriften schrieb, wagte zusammen mit seinem FreundHugo Ebner die Flucht über Gargellen. Beide nehmen am 12. April 1938 den überfüllten D-Zug nach Bludenz, dann den Bus nach Schruns. Auf Skiern ziehen sie weiter in Richtung Gargellen, wo sie am 13. April von einer österreichischen Grenzpatrouille festgehalten werden.

Vorwand Zeitungspapier

Hugo Ebner erinnerte sich so an diesen Tag: „Die Patrouille bestand aus einem alten Gendarmen, dem die ganze Sache nicht sehr angenehm war, einem zweiten, an den ich mich nicht mehr erinnere, und einem dritten, der offenbar ein Nazi war. Dieser bestand auf unserer Verhaftung, obwohl nach dem ersten Anblick eigentlich kein Grund vorhanden gewesen wäre. Als Vorwand nahm er Folgendes: In meinem Rucksack war eine Sardinenbüchse, die unnötigerweise in einem Stück Zeitungspapier eingepackt war. Diese Zeitungwar eine durchaus legale Gewerkschaftszeitung aus dem Jahr 1936, also eine vaterländische. Aber er hat das als eine illegale Zeitung betrachtet und hat darauf bestanden, dass wir verhaftet werden und mitkommen. Er waroffenbar tonangebend.“

Das Stück Zeitungspapier brachte die beiden ins KZ, erst nach Dachau, dann nach Buchenwald. Ebner emigrierte später nach Großbritannien, Soyfer erkrankte im Lager an Typhus und starb am 16. Februar 1939, seine Eltern lebten zu diesem Zeitpunkt schon in den USA, die Entlassungspapiere aus dem KZ für den Sohn waren bereits ausgestellt.

Mit Soyfers „Saurier, erwache!“, erschienen 1933 in der Zeitschrift „Der Kuckuck“, geht's denn auch los, und zwar im Montafon-Stübli des Hotels „Madrisa“. Am Schluss von Soyfers Tiersatire stellt der Saurier (Andreas Kosek) auf Nachfrage bei den Zeitgenossen – Soyfer nennt sie „Knirpsenchor“ – fest, dass sich am urzeitlichen Machtprinzip der Welt auch in Zeiten der Moderne eigentlich nichts geändert hat:
Saurier: Manchmal schufen Riesenechsen / von besonderer Statur, / schlau und roh, zu fünfen, sechsen / eine Urwalddiktatur. / Wer nicht kuschte, ward zerrissen / „auf der Flucht“ im Urgestein. / Dieser Brauch hat schwinden müssen?
Knirpsenchor: Nein, verehrter Saurier, nein.
Saurier: Also logt ihr frech vermutlich, / als ihr mir vom Fortschritt spracht! / Und mich schimpft ihr „vorsintflutlich“! / Knirpse, das ist ja gelacht! / Ich entstamme zwar dem Schiefer, / doch da seither nichts geschah, / bin ich ein moderner, viver, / genial-intuitiver / Führergeist! Stimmt's, Ungeziefer?
Knirpsenchor: Leider, lieber Saurier, ja . . .

Zu diesem Zeitpunkt halten die Zuschauer, die sich vor der Kirche in Gargellen versammelt haben, ebenfalls eine mit Zeitungspapier umwickelte Sardinenbüchse in der Hand. Die haben sie gleich zu Beginn des Stückes bekommen, dann meldet sich Friedrich Juen zu Wort. Der 47-Jährige ist Heimatforscher und begleitet das Publikum auf dieser Wanderung. Gemächlich und in gnadenlos breitem Alemannisch (bei Verständnisproblemen fasst Juen auf Wunsch hochdeutsch zusammen) verliest er Geschichte um Geschichte aus seinem Vorrat an Notizzetteln, um die Zuschauer einzustimmen auf die Zeit, über die er geforscht hat. Nicht alle im Montafon haben das gerne gesehen. Es ist hier wie überall: In Wunden stochern, auch in alten, tut weh. Und so haben Friedrich Juen und das Teatro Caprile anfangs – „Auf der Flucht“ läuft schon im vierten Jahr – immer wieder zu hören bekommen: Lasst sie doch endlich ruhen, die Geschichten vom Krieg! Haben sie aber nicht, und das hat ihnen heuer den Hauptpreis für „Innovative Tourismusprojekte“ in Vorarlberg eingebracht.

Sein Großonkel und der Großvater, erzählt der Heimatforscher, haben 1938 gegen den „Anschluss“ gestimmt, Großonkel Meinrad sei zudem eine schillernde Figur gewesen. Als Schmuggler von Menschen und Waren rettete er so manchen, der sich in seine Hände begab. Daran und am Schmuggel verdiente er gut; das Gewerbe war lebensgefährlich, doch Meinrad glaubte wohl an seine Unverwundbarkeit; dazu kam ein gehöriges Maß Chuzpe, meint der Heimatkundler. Und ärgert sich darüber, was ein Historiker einmal über seinen Großonkel geschrieben habe: Er sei getrieben gewesen von krimineller Energie. Ein Sprücheklopfer, das schon! „Was drei Zöllner bezeugen, kann ich weglügen“, ließ er sich gern vernehmen. Doch Meinrad, sagt Friedrich Juen, hat die Flüchtlinge, die sich ihm anvertrauten, nie im Stich gelassen. So wie andere.

Danach heißt es erst einmal Höhenmeter machen. Steil ist der Weg zur Ronggalpe, und später geht es kaum weniger schweißtreibend weiter zur Röbialpe. Da sitzen dann schon vor idyllischer Almhütte zwei Gargellener und betreiben Erinnerungsarbeit vor täglich stärker verschwimmendem historischem Hintergrund. Hinter der Hütte bewegt sich plötzlich etwas auf den grünen Wiesen. Es ist ein Nazi-Offizier (Andreas Kosek), der bald das ganze Publikum mithilfe eines weniger großspurigen, einfach nur bieder-gesetzestreuen Schweizer Grenzers (Roland Etlinger) in eine nahe Hütte treibt. Kosek hat seinen Christoph Waltz in Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“ gut studiert. Sätze wie Revolverkugeln, spritzend vor Gift und Galle, montiert aus Goebbels-Reden, Zitaten aus dem „Völkischen Beobachter“ und des österreichischen Blut-und-Boden-Autors Karl Springenschmid, schießt Kosek ab – die Inkarnation des Bösen.

„Auf der Flucht“ ist auch eine logistische Herausforderung. Die Darsteller müssen immer schon dort sein, wo das Publikum bald ankommt. Das Publikum wiederum will zusammengehalten werden, damit es sich nicht auf den Gebirgssteigen und Wanderwegen verliert oder zurückbleibt. Dafür sorgt Herbert Egle, Elektriker im Ruhestand, sommers Almhüter auf der Sarotlaalpe. Der Mann mit dem Stecken hat ein Auge drauf, dass keines seiner Schäfchen verloren geht. Alle sollen etwas davon haben, wenn sich ein Wandersteig unvermittelt auf eine Lichtung hin öffnet und auf halber Höhe eines steilen Wiesenhangs vor schweren Wolken eine Silhouette Theodor Kramer rezitiert: „Es öffnet sich mir in kein Land die Bahn, / ich kann mich nicht von selbst von hinnen heben: / Ich habe einfach keinen Raum zum Leben. / Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan.“

Das Montafon: ein weiterer Darsteller

Das Montafon selbst ist ein weiterer Darsteller, stumm, doch aussagekräftig. Gewissermaßen unverändert in seiner Anmutung, ob 1938 oder 2016. Und doch immer wechselnd. An diesem Tag könnte man fast dankbar sein für den Kälteeinbruch; am Vortag ist die Schneegrenze immer tiefer gefallen, die Theaterroute musste geändert werden wegen der schlechten Witterung. So ahnen die Zuschauer Schritt für Schritt, fröstelnd, durstig oder erschöpft, ein wenig von den seelischen und physischen Strapazen der echten Flüchtlinge.

Die Berge, das war Sperrgebiet. Hinter jeder Wegbiegung, jedem Bergrücken lauerte Gefahr. Oder doch eine Hütte mit Stroh? Ein Glas Milch oder doch ein verräterischer Fingerzeig in Richtung der Grenzposten? Gleichgültigkeit oder doch Mitmenschlichkeit? Nicht zu reden von Hunger, Fieber, Kälte und Krankheiten. Von Einsamkeit und Entfremdung, so wie es die beiden Lehrerinnen empfinden, wenn sie nach einer weiteren kalten Nacht auf dem harten Boden der Almhütte erwachen. Wozu noch weitergehen, sich weiterquälen? „Alles ist ausgelöscht, wir sind schmutzig bis auf die Knochen.“ Werden sie es schaffen über die Grenze? Welcher Schweizer Posten hat sie zurückgeschickt, welcher durchgewinkt? Wenig ist dokumentiert. Nach der Befreiung haben die NS-Gendarmen versucht, alle Akten zu beseitigen. Das Ende lässt Spekulationen zu; auch tröstliche.

Dann wandern alle wieder zurück auf die Ronggalpe. Benommen nimmt man Platz, während schon die Blasmusik spielt und bierseliges Lachen von den Nachbartischen herüberweht. Der Kontrast zu dem, was alle gerade erlebt haben, ist schmerzhaft und lachhaft groß. ■

Auf der Flucht: Termine

Noch dreimal, am 26., 27. und 28. August, zeigt das Teatro Caprile seine szenische Montage „Auf der Flucht“ im Montafon. Ausgangspunkt ist jeweils die Kirche in Gargellen, in der anschließenden rund fünfstündigen Wanderung sind 500 Höhenmeter zu bewältigen. Eine bergwegtaugliche Ausrüstung wird empfohlen. Nach einem Konzept von Katharina Grabher spielen u. a. Roland Etlinger, Maria King und Mark Német. Regie: Andreas Kosek.

Anmeldung beim Montafon-Tourismus in Gargellen unter der Telefonnummer 050/6686 310 respektive via E-Mail unter margit.ganahl@montafon.at. Die Veranstaltung findet bei jedem Wetter statt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2016)

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