"Geschichte ist der schwächste Teil der EU"

(c) Die Presse (Michaela Bruckberger)
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Das Bild vom "Völkerkerker Habsburg" ist wie vieles im Geschichtsverständnis Europas nicht richtig, sagt Timothy Snyder, Historiker an der Universität Yale und Autor des Buches "Der König der Ukraine".

"Die Presse": Heute herrscht die Sicht vor, dass in Europa in dem Moment Krieg und Vernichtung ausbrachen, als der Nationalstaat sein Haupt erhob. Sie beschreiben ihn dagegen als eine Art sicheren Hafen für unterdrückte Völker wie die Ukrainer, die entweder von den Polen oder den Tataren unterdrückt wurden. Muss man also das Bild vom „Völkerkerker Habsburg" revidieren?

Timothy Snyder: Ja. Diesem Buch liegt der Versuch zu Grunde, nationale Politik menschlicher darzustellen, als wir es zu denken gewohnt sind. Viele nationale Bewegungen im Habsburgerreich waren gleichzeitig soziale Bewegungen. Die ukrainische etwa war auch eine sozialistische, populistische Bewegung zu Gunsten der Bauern. Deshalb war es für Wilhelm attraktiv, sich mit den einfachen Leuten zu identifizieren. Und deshalb wurden viele ukrainische Nationalisten, die eigentlich Deutsche, Polen oder Juden waren, von ihr angezogen. Sie sahen sie nämlich als Bewegung für Gerechtigkeit. Zweitens wollte ich zeigen, dass die Menschen nicht gleich erkannten, dass nationale Identifikation und nationale Politik unbedingt zu unterschiedlichen Staaten führen musste. Die meisten tschechischen, ukrainischen und polnischen Nationalisten dachten nicht daran, neue Staaten zu gründen, sondern wollten Autonomie innerhalb des Reichs. Der Erste Weltkrieg machte den Nationalstaat unausweichlich. Ich denke, dass ohne ihn die Nationen des Habsburgerreichs zufrieden gewesen wären, im parlamentarischen Rahmen miteinander zu ringen.

Wie beurteilen Sie die österreichische Identität, die sich noch immer aus dem Mythos vom „ersten Opfer Hitlers" speist?

Snyder: Jede junge Nation gibt ihrer Vergangenheit dieselbe narrative Struktur. Zuerst gibt es ein verlorenes goldenes Zeitalter. Dann kommt ein Kampf. Im dritten Teil ist Souveränität, eventuell Wohlstand und Glück. An den Österreichern ist interessant, dass sie zu diesem speziellen Punkt ihrer narrativen Struktur viel später kommen als die meisten anderen Nationen, erst gegen 1955 oder 1960. Seit damals können die Österreicher sagen: Es gab die Habsburger, dann das Dritte Reich und die Besatzung durch die Alliierten, und nach 1955 Souveränität und Glück. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Narrative der Österreicher plötzlich dieselbe Struktur, wie sie die Tschechen, Polen und Ukrainer schon ein Jahrhundert früher hatten. Ändert sich das nun? Österreichs Opfergeschichte ist nicht ausschließlich sein eigener Fehler. Denn die USA, die Sowjetunion und die Briten wollten den Anschluss rückgängig machen. Um das zu tun, mussten sie Österreich als Opfer darstellen. Diese Geschichte wurde seit der Moskauer Deklaration von 1943 ständig erzählt. Die Österreicher haben diese Geschichte insofern fortgeschrieben, dass auch die alliierte Besatzung im Kern eine Frage des Leidens war und Befreiung erforderlich machte. Diese Sicht hat sich in den letzten 20 Jahren stark geändert, auch wenn Österreich nicht dem deutschen Modell gefolgt ist, wo es erst eine amtliche Entnazifizierung gab, dann eine gesellschaftliche und eine echte Auseinandersetzung in den 80er-Jahren.

Wieso tun sich die postkommunistischen Gesellschaften so schwer, sich unverkrampft mit ihrer Geschichte zu befassen - siehe der jüngste Streit zwischen Ungarn und der Slowakei?

Snyder: Der EU-Beitritt hat die Osteuropäer weniger zu einer kosmopolitischen Diskussion geführt, sondern den anderen Europäern angeglichen. Und zwar darin, dass Geschichte eine private Angelegenheit ist, etwas, das man für sich selber macht. Warum ist das wichtig? Weil Geschichte der schwächste Teil der EU ist - und ein Stolperstein für jede weitere Einigung. Es gibt in Europa, anders als in den USA oder Russland, keine gemeinsamen Weg, Geschichte zu unterrichten. Es wird akzeptiert, dass zum Beispiel die Portugiesen ihre Version vom Zweiten Weltkrieg haben und die Griechen die ihre. Die Geschichte, die die Osteuropäer bis 2004 der Welt erzählten, war eine von liberalen Demokratien, die von fremden Mächten zerstört wurden. Ohne die Nazis und die Kommunisten wäre folglich alles in Ordnung gewesen. Jetzt aber sind sie in der EU und müssen ihre Geschichte nicht mehr politisch korrekt erzählen.

In Polen gibt es heute fast nur Polen, in Ungarn fast nur Ungarn, in Tschechen fast nur Tschechen und so weiter. Der britische Historiker Tony Judt nennt dies das größte Erbe der Vertreibungspolitik von Hitler und Stalin. Tun sich die Länder Mittel- und Osteuropas, von Österreich bis Lettland, darum so schwer, die Rechte ihrer Minderheiten zu wahren?

Snyder: Ich denke, eine ironische Errungenschaft der Kommunisten war die Zerstörung der Idee von Loyalität gegenüber dem Staat. Der Kommunismus hätte zwar das Ende aller nationalen Loyalitäten herbeiführen sollen. Tatsächlich aber schlossen die Kommunisten eine intellektuelle Allianz mit den Nationalisten, und so wurden ihre Staaten fast durchgängig ethnisch definierte Staaten. Das trifft insbesonders auf Polen zu. Die polnische Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist wahnsinnig kompliziert, aber es gab immer Leute, die dafür plädierten, dass der Staat der Ort politische Loyalität und Identifikation, nicht die Volkszugehörigkeit. Die Kommunisten haben das zunichte gemacht, indem sie die ethnische  Säuberungen , die die Nazis begonnen hatten, zu Ende brachten und zudem ausdrücklich erklärten, dass Polen ein ethnisch homogener Staat für die Polen sei. Das machte es für die polnischen Bürger sehr schwer, den Unterschied zwischen dem Staat und der Nation zu erkennen. Vergleichen Sie 2004 - ein offensichtlich sehr glücklicher Moment, in dem die Länder der EU beitreten, mit 1918 - dem Moment, wo diese Länder erstmals unabhängig werden. Man bemüht sich lange um nationale Souveränität, aber die Befreiungsparty dauert einen Tag lang, und danach ist die Staatsgewalt ziemlich begrenzt. Darum lassen sich die Führer dieser Staaten in nationalistischen Populismus zurückdrängen, der politisch wenig Konkretes bringt, aber als Ersatz für die Macht eines Staates wirkt, die es nicht gibt. Und was die jüngste ungarisch-slowakische Episode betrifft: Es gibt keine ungarisch-slowakische Grenze. Dort stehen keine Grenzwachen. Um den ungarischen Präsidenten am Betreten der Slowakei zu hindern, haben die Slowaken eigens Polizisten an die Grenze schicken müssen. Auf gewisse Weise gibt es keinen slowakischen Staat mehr - denn ein Staat, der seine Grenzen nicht kontrolliert, ist im klassischen Sinn kein Staat mehr.

Löst das Verschwinden der Grenzen zwischen den EU-Staaten in Osteuropa nationalistische Überreaktionen aus?

Snyder: Ich bin optimistischer. Zwischenfälle wie dieser werden mit der Zeit verblassen. Die wichtigste Folge des Verschwindens der Grenzen ist, dass die jungen Europäer mehr reisen. Und dabei werden sie kosmopolitischer. Und sie bringen wohl auch liberalere Weltsichten in ihre Heimat zurück.

Was ist die Ukraine im Jahr 2009? Ist es so einfach, dass der westliche Teil eher pro-europäisch ist, der östliche pro-russisch, und damit hat es sich?

Snyder: Es ist interessant, dass liberale Europäer ethnische Kategorien zu vermeiden versuchen, wenn sie über die EU sprechen. Sobald sie sich aber mit einem Land wie der Ukraine befassen, schein plötzlich Ethnizität die Antwort auf alle Fragen zu sein. Das ist sehr primitiv und falsch. Natürlich gibt es zwischen dem Westen und dem Osten der Ukraine Unterschiede. Der Westen - Galizien, Wolhynien -, ist eine Brutstätte des ukrainischen Nationalismus, während der industrialisierte Südosten das Zentrum einer gewissen nicht-nationalen Politik der Arbeiterklasse ist. Die Bevölkerung definiert sich selbst als Ukrainer - egal, ob sie Ukrainisch oder Russisch sprechen. Und auf gewisse Weise sind sie kosmopolitischer als viele Menschen im Westen, weil sie beide Sprachen beherrschen und in verschiedenen Kontexten verwenden. Die Ukraine ist sozusagen ein viel moderner Staat, als es jene Westeuropäer wahrhaben wollen, die versuchen, mit Begriffen des 19. Jahrhunderts eine postmoderne Nation aus dem 21. Jahrhundert zu fassen. Das verwirrt die Russen übrigens auch. Sie sehen, dass die Menschen in Kiew Russisch sprechen, und denken sich: Oh, das müssen Russen sein. Aber die Amerikaner in Washington sprechen auch Englisch, ohne dass die USA England wären.

Bekommen junge Ukrainer objektive Geschichtsbücher, um sich über ihre Herkunft zu informieren?

Snyder: In der Ukraine ist das historische Gedächtnis gespalten. Das wiegt schwerer als Fragen der Sprache oder Ethnizität. Es gibt einerseits den starken Erzählstrang über die Befreiung von der Naziherrschaft. Die Ukraine hat viel stärker als Russland unter den Nazis gelitten, denn sie war von 1941 bis 1944 besetzt. Ukrainische Truppen haben im  Großen Vaterländischen Krieg  der Roten Armee verhältnismäßig zahlreicher gekämpft und den Tod gefunden. Denn als die Rote Armee durch die Ukraine gegen Westen vordrang, hat sie schlimme Verluste erlitten. Die hat sie mit ukrainischen Bauern wettgemacht. Die Armee, die Österreich befreit hat, wenn das der richtige Ausdruck ist, war großteils ukrainisch. Diese kraftvolle Geschichte war für zwei Generationen die offizielle sowjetische Geschichte. Andererseits gibt es die Geschichte von rechtsextremen ukrainischen Nationalisten, die in den 1940er- und 1950er-Jahren gegen die Sowjets kämpften. Es ist unmöglich, diese beiden Geschichten miteinander zu versöhnen. Bekommen die ukrainischen Schulkinder heute also bessere Lehrbücher als zu Sowjetzeiten? Ich denke schon - vor allem, weil sie, anders als russische Schulkinder, eine nicht-stalinistische Version der sowjetischen Vergangenheit vermittelt bekommen.

Zur Person

Timothy Snyder ist Professor in Yale und einer der besten Experten für neue osteuropäische Geschichte. Sein Buch „The Red Prince“ ist nun bei Zsolnay unter dem Titel „Der König der Ukraine“ erschienen. Derzeit schreibt er an „Bloodlands“, das sich mit den nazistischen und stalinistischen Massenmorden in Osteuropa zwischen 1933 und 1953 befasst.

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