Unter dem neuen SPÖ-Chef sind linke Kritiker leise geworden. Die Wohnsitzpflicht hat aber das Zeug zur Zerreißprobe.
Wien/Graz. Das war dann doch recht forsch. Bundeskanzler und SPÖ-Vorsitzender Kern hat zwar seit seinem Amtsantritt Mitte Mai keinen Zweifel gelassen, dass er zu der unter seinem Vorgänger Werner Faymann mit dem Koalitionspartner ÖVP im Jänner paktierten Asylobergrenze mit heuer maximal 37.500 Personen und zur Notverordnung steht. Aber mit der erstmaligen Nennung eines Termins – 6. September – für die Notverordnung hat der SPÖ-Chef nicht nur Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP) unter Druck gesetzt, offene Punkte zu klären (siehe obenstehenden Bericht). Er zwingt auch seine Funktionäre und Genossen bis hinein in die Bundesregierung zu einem Offenbarungseid. Denn in Teilen der Kanzlerpartei herrschen, etwa bei Staatssekretärin Muna Duzdar, massive Zweifel, dass aufgrund des Flüchtlingszustroms und der Folgen in Österreich ein Notstand gegeben sei.
Im selben Interview mit der Austria Presse Agentur hat Kern eine zweite bemerkenswerte Festlegung in der Asylpolitik getroffen: Er ist für eine Wohnsitzpflicht für Asylberechtigte im Zuge der Neuregelung der Mindestsicherung. Damit liegt er zwar auf der Linie seines Sozialministers, Alois Stöger, und der Wiener SPÖ. In den roten Länderorganisationen ist eine Wohnsitzpflicht beziehungsweise -auflage für Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte jedoch keineswegs eine ausgemachte Sache.
Den Ländern ist der eigene Rock näher
Dort sind bei allen Bekenntnissen zu Solidarität SPÖ-Landespolitikern der eigene Rock und die eigene Bevölkerung näher als das rot-grün regierte Wien, wo sich Asylwerber und Personen mit Asylstatus drängen. Kern ist mit jener Bruchlinie in der Flüchtlingspolitik konfrontiert, die sich schon zu Faymanns (End-)Zeit durch die Sozialdemokratie zog. Bei Obergrenze und Notverordnung steht der klar stärkere pragmatisch-rechte Flügel, angeführt von Burgenlands Landeschef Hans Niessl und Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil, hinter einer restriktiven, auch vom Großteil der Bevölkerung unterstützten Asyllinie. Dort wird auch die jetzige Vorbereitung der Notverordnung ausdrücklich begrüßt: „Der Handlungsbedarf wird eintreten.“
Dem steht nach wie vor ein wesentlich kleinerer linker Flügel gegenüber. Der große Unterschied ist: Die Zurufe der politisch einflussreichsten Vertreter, wie der stellvertretenden Wiener Klubchefin Tatjana Wehsely, sind in der Öffentlichkeit unter Kern praktisch verstummt. Noch unter Faymann haben vier SPÖ-Parlamentarierinnen im April die Zustimmung zum Asylpaket samt grünem Licht für die Notverordnung verweigert. Bei jenen, die nun lautstark klagen, wie SPÖ-Studenten und Jusos, gehört derlei fast zur politischen Berufsbeschreibung.
Gefährlicher wird für Kern die Kluft in den Reihen der SPÖ um die Wohnsitzpflicht. Allerdings ist man in den roten Landesorganisationen außerhalb Wiens bemüht, einen Offenbarungseid zu vermeiden. Symptomatisch ist die Position der steirischen SPÖ mit Landesparteichef Michael Schickhofer. Wobei die Steiermark besonders im Blickpunkt steht, weil sie bis Ende 2016 den Vorsitz in der Konferenz der Landeshauptleute ausübt. „Wir brauchen prioritär eine gesamtösterreichische Vereinheitlichung der Mindeststandards für Asylberechtigte und Asylwerber und eine Angleichung auf einem bestimmten Niveau“, wurde der „Presse“ in Graz mitgeteilt. Damit werde man eine Wohnsitzpflicht erst gar nicht brauchen. (ett)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.08.2016)