Stillstand: Wer macht Europas Baustellen zu?

(c) EPA (Olivier Hoslet)
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Finanzen, Klimakonferenz, Erweiterung – und die EU ist in der Führungskrise. Doch Brüssel muss sich jetzt auf dem internationalen Parkett bewähren.

Eine „lahme Ente“ drohe die EU in den nächsten Monaten zu werden, warnt niemand Geringerer als EU-Kommissionschef José Barroso. Tatsächlich: Derzeit ist nicht einmal klar, auf welcher rechtlichen Grundlage die nächste EU-Kommission arbeiten soll. Mehr noch: Es ist offen, ob Barroso die Behörde überhaupt noch anführen wird. Am Mittwoch  verhandelt er mit seinen größten Kritikern, den Sozialisten und den Grünen. Nächste Woche entscheidet das ganze EU-Parlament.

Brüssel steuert also auf Wochen der Instabilität hin. Und das kann sich die Union nicht leisten. So stellt die Finanzkrise eine der größten Herausforderungen seit Jahren dar. Auch muss die EU beweisen, dass sie die Integration wirklich vorantreiben will. Aber vor allem: Brüssel muss sich auf dem internationalen Parkett bewähren. Und etwa bei den Klimaverhandlungen in Kopenhagen zeigen, dass die EU ein ernst zu nehmender Partner ist.

FINANZKRISE
Am 17. September setzen sich Europas Staats- und Regierungschefs in Brüssel eigens zu einem Sondergipfel zusammen. Dort wollen sie das gemeinsame Profil für das G20-Treffen in Pittsburgh eine Woche später schärfen, das dem Kampf gegen die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise gewidmet ist. Allein: Von EU-Leadership in der Frage kann kaum noch gesprochen werden. Die EU-Kommission hat spät auf die Krise reagiert und es bisher nicht geschafft, bei den EU-Ländern unter anderem eine gemeinsame europäische Finanzaufsicht durchzusetzen. Damit bleibt die Schlagkraft der EU in der Krise hinter ihren Möglichkeiten – die Nationalstaaten bremsen.

Kommissionschef José Barroso will, so hat er es versprochen, im Fall einer zweiten Amtszeit aktiver dafür werben – bis dahin droht Stillstand. Beim Sondergipfel wird es zumindest um eine mögliche Beschränkung von Bonuszahlungen für Bankenmanager gehen.

KLIMAPAKET
Es wäre eine große Chance für die EU, sich auf internationalem Parkett zu profilieren: Bei den Verhandlungen für ein neues internationales Klimaabkommen im Dezember (das Kyoto-Protokoll läuft 2012 ab) sollte die EU eigentlich das Wort führen. Hat Brüssel in den Vorjahren doch den Klimaschutz ganz oben auf seine Agenda gesetzt: Bis 2020 sollen in der EU die Treibhausgasemissionen um 20 Prozent gesenkt werden, der Anteil erneuerbarer Energien soll auf 20 Prozent steigen. Die EU-Kommission hat in der Vorwoche einen Plan vorgelegt, um die offenbar stockenden Verhandlungen für die Kopenhagen-Konferenz zu retten: So will Brüssel 20 bis 30 Prozent der bis zu 80 Milliarden Euro übernehmen, die die Entwicklungs- und Schwellenländer schätzungsweise für einen Umbau ihrer Industrien bräuchten. Ob die EU-Behörde dafür allerdings grünes Licht aus den EU-Hauptstädten bekommt, ist offen.

ERWEITERUNG
Ungelöst ist noch, wie die Union mit ihren 27 Mitgliedstaaten politisch effizient agieren kann – und schon drängen die nächsten Staaten in die Union: Die Türkei, Kroatien und Mazedonien sind offizielle Beitrittskandidaten. Die Hoffnung, Teil der Union zu sein, wird auch weiteren Staaten auf dem Westbalkan gemacht – sie gelten als „potenzielle Kandidaten“. Auch Island hat inzwischen einen Beitrittsantrag eingereicht.

Die Aussicht, EU-Mitglied zu werden, ist für alle diese Länder ein wichtiger Antrieb zu Reformen und zur Modernisierung. Zugleich wächst in vielen EU-Staaten der Widerstand gegen neue Aufnahmen – vor allem gegen die großteils muslimische Türkei sind die Vorbehalte groß. Für die Beitrittsverhandlungen ist Stabilität in Brüssel zentral, sind sie doch ein politischer Balanceakt: Ängste in den EU-Staaten müssen genauso gering gehalten werden wie Ressentiments bei den Kandidaten.

INSTITUTIONENREFORM
Am 2. Oktober stimmen die Iren zum zweiten Mal über den EU-Vertrag von Lissabon ab. Dieser würde die EU-Institutionen stärken und die Abstimmungen im EU-Rat der Mitgliedstaaten erleichtern. Selbst wenn die Iren Ja sagen, steht die EU ab November vor einem Dilemma: Bis dahin wird der Lissabon-Vertrag noch nicht in Kraft sein, und die neue EU-Kommission müsste nach dem noch gültigen Nizza-Vertrag schrumpfen: um mindestens einen Kommissar. Das will kein Land. Die Staaten überlegen daher eine Verlängerung – bis mindestens Ende Jänner, damit alle Länder weiter in der Kommission vertreten sind.

Sobald der Lissabon-Vertrag gilt, ist dies sowieso möglich. Bis er aber kommt, muss auch das EU-Parlament auf mehr Mitsprache, etwa in der Agrarpolitik, warten. Und der neue „EU-Außenminister“ sowie der neue „EU-Präsident“ im Rat mit (mindestens) zweieinhalbjähriger Amtszeit können ebenfalls erst nach Lissabon starten.

IMMIGRATION
Demnächst sollen große Schritte hin zu einem vereinten Europa gesetzt werden. Besonders umstritten ist eine einheitliche Asyl- und Flüchtlingspolitik. Entsprechende Pläne der EU-Kommission stoßen noch auf großen Widerstand in den EU-Hauptstädten. Während die Europaparlamentarier sich nach hitzigen Debatten im Frühjahr mehrheitlich für eine Asylrichtlinie ausgesprochen haben, sperren sich mehrere Länder dagegen, dass Asylwerber EU-weit einheitlich nach sechs Monaten eine Arbeitsbewilligung bekommen sollen. Auch der Familienzuzug ist umstritten: Der Rat der Länder neigt zu einer engen Definition, wer nachkommen darf.

In weiter Ferne ist eine „Solidaritätsklausel“, wonach die Länder etwa Bootsflüchtlinge nach einer Quote gerecht untereinander aufteilen sollen. Eine Absage hat sich die Kommission auch mit dem Aufruf geholt, alle EU-Staaten sollten Kriegsflüchtlinge aufnehmen – und mehr als bisher.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.09.2009)

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