Grazer Amokfahrt: Prozess auf Videowand

Archivbild: Trauer in Graz am 20. Juni 2015
Archivbild: Trauer in Graz am 20. Juni 2015APA/ELMAR GUBISCH
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Die in einem Monat beginnende Geschworenenverhandlung gegen den Amokfahrer von Graz, Alen R. (27), wird per Live-Stream auch in einen zweiten Gerichtssaal übertragen.

Graz. Prozess? Es ist eher ein Großereignis, das ab 20. September auf die Grazer Justiz zukommt. Die Rede ist von der Verhandlung gegen einen gewissen Alen R. Der 27-Jährige ist besser bekannt unter jenem Beinamen, den er in der Öffentlichkeit seit dem 20. Juni 2015 trägt: Amokfahrer von Graz.

Gleich zwei Gerichtssäle gleichzeitig sollen genutzt werden. Einer als eigentlicher Verhandlungsort und einer, in den das Geschehen per Live-Stream übertragen wird. Der Grund: Angesichts des enormen öffentlichen Interesses bietet ein Saal alleine zu wenig Plätze für Zuschauer und Journalisten.
R. sorgte an diesem 20. Juni für ein sehr dunkles Kapitel in der Grazer Stadtgeschichte. Drei Menschen, darunter ein vierjähriges Kind, starben; 36 Personen wurden zum Teil schwerst verletzt, als der junge Mann mit einem Auto durch die Grazer Innenstadt raste. Und „gezielt“ auf seine Opfer losfuhr, wie die Staatsanwaltschaft Graz angibt.

Neun Verhandlungstage (Urteil: 30. September) will sich nun ein Geschworenegericht unter dem Vorsitz von Richter Andreas Rom Zeit nehmen, um zu einem Urteil zu kommen. Die Besonderheit, die in der Öffentlichkeit zuletzt eine Mischung aus Ärger und Unverständnis hervorrief: R. gilt laut dem Obergutachten des deutschen Spezialisten Jürgen Müller vom Fachklinikum Göttingen als nicht zurechnungsfähig. Demnach kann die Staatsanwaltschaft gar keine Bestrafung fordern. Sie muss – und dies tat sie auch – eine „vorbeugende Maßnahme“, konkret: eine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher beantragen.

Zwischen Anstalt und „Lebenslang“

Kommt es zu einer solchen (unbefristeten) Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie, so kann und muss R. entlassen werden, sobald er als geheilt bzw. als nicht mehr gefährlich gilt. Im Falle einer „normalen“ Bestrafung hätte R. mit bis zu lebenslanger Haft rechnen müssen. Zu diesem Thema hatte der Grazer ÖVP-Bürgermeister Siegfried Nagl im Interview mit der „Presse am Sonntag“ erklärt: „Ich halte es für unerträglich, dass es passieren könnte, dass jemand, der eine solche Tat begangen hat, nach ein, zwei oder auch zehn Jahren als gesund gilt und für diese Tat nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden kann. Ich habe in Graz keinen Menschen getroffen, der anderer Meinung wäre.“ Nagl spricht bei diesem Thema nicht nur als Bürgermeister bzw. Politiker sondern auch als Betroffener: Er war während der Amokfahrt auf seiner Vespa unterwegs und wurde von R. nach eigenen Angaben geradezu „anvisiert“. Er hätte sich, so Nagl, gerade noch in Sicherheit bringen können.

Der Prozess stellt das Gericht nun vor große Herausforderungen: Wenngleich die Amokfahrt gemäß Ermittlungen des Verfassungsschutzes keinen terroristischen Hintergrund hatte, wird es im Gericht „erhöhte Sicherheitsmaßnahmen“ geben. Abgesehen davon sollen 130 Zeugen geladen werden. Dazu sieben Sachverständige – drei allein aus dem Fachgebiet Psychiatrie. Wie berichtet hatte ein Gutachter den Amokfahrer – R. war als Kind mit seinen Eltern wegen des Bosnien-Krieges nach Österreich geflüchtet – als zurechnungsfähig erklärt. Ein anderer Experte hatte R. hingegen als „nicht zurechnungsfähig“ eingestuft. Eben deshalb kam es zur Bestellung des zuvor erwähnten Obergutachters. Das letzte Wort haben die Geschworenen. Sie könnten sich entgegen dem Obergutachten und entgegen dem staatsanwaltlichen Antrag auf Unterbringung immer noch für eine Bestrafung entscheiden.

108-facher Mordversuch

Der riesige Zeugenaufmarsch – prominentster Zeuge ist freilich der Grazer Bürgermeister – zeigt wie viele Menschen damals von der Amokfahrt betroffen waren. Dieser Umstand findet auch im Antrag auf Unterbringung seinen Niederschlag. Zusätzlich zu den (vollendeten) Tötungen wird R. vorgeworfen, er habe versucht, „insgesamt 108 Personen, darunter sechs Kinder, vorsätzlich zu töten“.
Doch für den 108-fachen Mordversuch gilt dasselbe wie für die vollendeten Taten: Laut Gutachten war Alen R. wegen einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie nicht in der Lage das Unrecht seiner Taten einzusehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18. August 2016)

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