Goldgräberstimmung in der Krebsmedizin

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Die Onkologie hat eine neue Ära erreicht, sagt Otmar Wiestler von der Helmholtz-Gemeinschaft. Molekulare Diagnostik und Immuntherapie erlauben maßgeschneiderte Therapien und könnten Krebs chronisch machen.

Krebserkrankungen sind so unterschiedlich wie die Menschen, die davon betroffen sind. „Im Lauf des Lebens kann es zu spontanen Erbgutveränderungen im Gewebe oder in den Organen kommen, die Krebs auslösen“, sagt Otmar D. Wiestler, Mediziner und Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft. „Derzeit kennen wir rund 200 Krebsarten, tatsächlich aber können zwei Personen mit derselben Diagnose völlig konträre Krankheitsverläufe aufweisen.“ Lange kannte man die Gründe dafür nicht, „nun aber ist die Krebsforschung in eine neue Ära eingetreten“, betont Wiestler.

Der Schlüssel beruht auf dem Nachweis molekularer Veränderungen im Krebsgewebe betroffener Patienten. Dahinter verbirgt sich die Suche nach Veränderungen im genetischen Code des Patienten und die Entwicklung speziell darauf ausgerichteter Medikamente. Kurzum: „Eine völlig andere Herangehensweise als bei Chemotherapie oder Bestrahlung, die nicht diesen Individualisierungsgrad aufweisen.“

Eine Diagnose, zwei Verläufe

Zur Illustration führt Wiestler den Fall zweier an Brustkrebs erkrankter Frauen an. Sie sind gleich alt, werden im selben Spital behandelt, erhalten die gleiche Diagnose und Behandlung. Der Unterschied: „Frau Meier ist nach einem Jahr geheilt, Frau Müller verstirbt“, so Wiestler. Der Grund dafür: Was die Pathologen zunächst als Brustkrebs identifiziert haben, sind eigentlich zwei unterschiedliche Krankheiten. „Das erkennt man aber erst, wenn man sich das Erbgut der Krebszellen in beiden Fällen ansieht und dabei auf Biomarker für eine individualisierte Behandlung mit gezielt wirksamen Medikamenten analysiert.“ Folglich für jede Patientin eine maßgeschneiderte Therapie sucht.

„Derzeit sind über 100 solche Medikamente verfügbar oder in der Entwicklung“, sagt Wiestler. „Wir sind bestrebt, dieses Arsenal so groß werden zu lassen, dass man zunehmend einzelnen Patienten eine individualisierte Behandlung anbieten kann.“ Oder auch nicht: „Die Therapie wird nur angewendet, wenn der Biomarker belegt, dass damit die aufgetretene Mutation gehemmt oder korrigiert wird.“

Abseits personalisierter Therapien setzen die Onkologen zunehmend auch auf Immuntherapien. Der Ansatz: Da Krebszellen stark veränderte Zellen sind, müssten sie vom körpereigenen Abwehrsystem bekämpft werden. Oft werden sie das aber nicht. Dieses Versagen hat laut Wiestler zwei Gründe: Einerseits könnten die Antigene der betroffenen Zellen manchmal nicht erkannt werden, andererseits hätten manche Krebse gelernt, Schutzwälle gegen das Immunsystem des Körpers aufzubauen.

„Mittlerweile kennen wir einige der Werkzeuge, derer sich die unterschiedlichsten Krebsarten bedienen, um diesen Block gegen das Immunsystem aufzurichten“, sagt Wiestler, der über zehn Jahre lang den Vorsitz im Stiftungsvorstand des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg inne hatte.

Diese „Mauern“ einzureißen, wird mit „Check-Point-Inhibitoren“ versucht. Sie sollen die Fluchtmechanismen des Tumors eindämmen. „Bei Patienten mit schwarzem Hautkrebs konnten damit schon erstaunliche Ergebnisse erzielt werden“, sagt Wiestler. „Das zeigt, dass es gelingen kann, Krebs zwar nicht immer zu heilen, aber lange unter Kontrolle zu halten, ihn chronisch werden zu lassen“, so der Mediziner. „Diese Erkenntnis hat in der Krebs- und Arzneimittelforschung großen Optimismus ausgelöst.“

Derzeit sind Krebserkrankungen für rund ein Viertel der jährlichen Todesfälle in Österreich verantwortlich. 2012 wurden bei 39.014 Personen Neuerkrankungen dokumentiert, 20.172 bei Männern und 18.842 bei Frauen. Bei 10.673 Männern und 9505 Frauen führte eine Erkrankung zum Tod. Die Zahlen sind die aktuellsten, die für die Republik vorliegen und stammen aus dem „Krebsbericht 2016“ der Statistik Austria. Bei etwas mehr als der Hälfte der Betroffenen wurde demnach Darm-, Lungen-, Brust- oder Prostatakrebs diagnostiziert.

Ein Drittel weniger Krebs

„Abgesehen von unserer genetischen Ausstattung hängt die Ausprägung von Krebs auch von der Lebensführung ab“, so Wiestler. Ein Beispiel: „Wenn wir nicht rauchen, würde ein Drittel aller Krebserkrankungen nicht mehr auftreten, denn der Zigarettenrauch bewirkt Erbgutveränderungen, die Krebszellen auf den Weg schicken können.“ Das gelte nicht nur für Lungenkrebs, sondern auch für Krebse im Mund-Hals-Bereich, für Darm-, Prostata- und Brustkrebs. „Das Risiko für Hautkrebs sinkt bei Vermeidung von massiver Sonneneinstrahlung, eine eiweiß- und kalorienärmere Kost ist eindeutig mit einem verringerten Darmkrebsrisiko verquickt“. Ein Manko in Sachen Bewusstseinsbildung ortet Wiestler auch in puncto Vorsorge. „Viele Menschen nehmen die bestehenden Möglichkeiten nicht wahr, obwohl die Krankenkasse sie bezahlt“, sagt er mit Verweis auf die Koloskopie.

„Darmkrebs ist in Österreich und Deutschland die häufigste Krebsform bei Männern und Frauen gemeinsam, trotzdem lassen weniger als 20 Prozent der Frauen und weniger als 10 Prozent der Männer eine Darmspiegelung machen, bei der man Frühformen erkennen und beseitigen kann“, kritisiert er.

Ein anderes Beispiel: Fast 100 Prozent der Gebärmutterhalskrebserkrankungen und beinahe die Hälfte aller Krebse in Mund und Rachen würden von Papillomviren ausgelöst. Die bereits im Umlauf befindliche Schutzimpfung könnte 75 bis 80 Prozent davon erfassen. „Leider wird die Schutzimpfung in Deutschland und Österreich nicht konsequent eingesetzt“, bedauert Wiestler. Sein Befund: „Es gäbe viele Maßnahmen, doch es fehlt an der Aufklärung darüber.“

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