Europa, sagt der Präsident des Europäischen Gerichtshofs, Koen Lenaerts, sei nicht ein abstraktes Ziel. Europa sei ein Mittel, um gemeinsam vernünftige Politik zu machen. Und das brauche respektvollen Umgang und Solidarität.
Wenn Koen Lenaerts über die neue Aufklärung vor einem juristischen Hintergrund nachdenkt, dann wirft der Präsident des Gerichtshofs der Europäischen Union erst einmal einen Blick zurück. 1984, als er den EuGH als Rechtsreferent erstmals von innen kennenlernte, waren die Probleme, mit denen der Gerichtshof befasst wurde, recht überschaubar: Die Rechtsfragen kreisten beinahe ausschließlich um das, was man damals den gemeinsamen Markt nannte. „Das heißt Freizügigkeit in all ihren Aspekten“, sagt Lenaerts, daneben ein wenig Wettbewerbs-, Agrar- und Transportrecht.
Doch dann setzte eine rasante Entwicklung ein: „Europa erlebte beinahe im Fünf-Jahres-Rhythmus eine Vertragsänderung, die jedesmal eine Vertiefung der Integration darstellte.“ Lenaerts meint damit eine Ausweitung auf neue (Rechts-)Bereiche, weil die Mitgliedsstaaten begriffen, dass es weder sinnvoll noch effizient sei, viele dieser Bereiche rein national zu behandeln.
Prägende Integration
Den Anfang machte die Einheitliche Europäische Akte 1987, mit der der Binnenmarkt geschaffen wurde. Den nächsten Vertiefungsschritt brachte der Vertrag von Maastricht 1992 mit der Einführung der gemeinsamen Währung. Fünf Jahre später führte der Vertrag von Amsterdam einen gemeinsamen Raum von Freiheit, Sicherheit und Recht ein, der die justizielle Zusammenarbeit in Zivil-, Handels-, Verwaltungs- und Strafsachen ebenso brachte wie etwa in Polizei-, Zoll- oder Asylangelegenheiten. Ein wichtiger Schritt der Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, sagt Lenaerts, denn nicht alle Menschen, die die offenen Grenzen nutzten, würden dies nur für legale Zwecke tun.
Auch die (nur teilweise gelungenen) Verträge von Nizza 2001 und Lissabon 2007 hätten für eine Vertiefung der Integration gesorgt. Weil weitere Politikbereiche umfasst und auch die Regeln für die Institutionen verändert wurden. Denn es wirke integrierend, wenn statt Einstimmigkeit im Rat auf einmal eine qualifizierte Mehrheit entscheiden kann. „Das ist vertiefende Integration, wenn materiell derselbe Bereich verhandelt wird, aber die Macht gegen den Willen einzelner Mitgliedsstaaten ausgeübt wird.“ Und die an das Ergebnis gebunden sind.
Wenn Lenaerts über Integration redet, dann spricht aus ihm der überzeugte Europäer, der die „gemeinsame Bestimmung und die gegenseitige Abhängigkeit“ der Mitgliedsstaaten betont. Eine Gemeinschaft, in der die Menschen auch die Politik und die Wirtschaft der anderen Mitgliedsländer im Blick haben. „Wenn Frankreich oder Griechenland wählen, dann interessiert das auch die Bewohner der anderen Länder“, sagt der 61-jährige Belgier.
Schattierungen sind entscheidend
Und Lenaerts erklärt auch, warum die europäische Integration ganz elementar mit der neuen Aufklärung zusammenhängt. Denn unter aufgeklärtem Verhalten versteht er, „dass wir als vernünftige Leute mit gegenseitigem Respekt füreinander in die Debatte treten.“ Außerdem, sagt Lenaerts, dass die EU-Bürger einander sehr empathisch zuhören müssten, um als Mehrwert vernünftige Lösungen für sehr schwierige Probleme finden zu können. Genauer, für Fragen, die nicht einfach mit einem Ja oder einem Nein beantwortet oder damit gelöst werden können.
In diesem Zusammenhang will sich Lenaerts einen Seitenhieb auf Volksabstimmungen nicht verkneifen – und hat dabei wohl das jüngste britische Votum vor Augen: Es sei kaum möglich, Lösungen für komplizierte Fragen in einem Satz zu formulieren, der sich eben mit Ja oder Nein beantworten lasse. Damit ginge jede Schattierung und jede differenzierte Abwägung verloren.
Insofern sieht er sein Haus auf dem Plateau Kirchberg in Luxemburg, den EuGH, auch ganz klar in einer Vorbildfunktion: Menschen aus verschiedenen Rechtstraditionen, unterschiedlichen Kulturen, mit sehr individuellen Überzeugungen würden dort zusammenkommen und zusammenarbeiten und versuchen, für jede Rechtsfrage, die auch eine gesellschaftspolitische Frage beinhaltet, ein gute Lösung zu finden. „Wir versuchen, mit Rechtsargumenten auch dem ganzen Umfeld eines Falles Rechnung tragen, damit wir ein tragfähiges Urteil machen, das in den Gesellschaften der Mitgliedsstaaten Fuß fassen kann.“
Das Gemeinwohl nicht vergessen
Denn letztlich „ist die Europäische Union nur dazu da, um die Mitgliedsstaaten besser zu machen“, sagt Lenaerts. Für ihn, sagt er, seien die Mitgliedsstaaten und ihre Bürger die wichtigen Akteure der Union: „Es ist eine Bottom-up-Union. Alles fängt bei den Bevölkerungen an.“ Und daher sollte ihnen, wenn sie nach den demokratischen Spielregeln ihres jeweiligen Landes wählen und entscheiden, immer auch klar sein, dass sie zum Gemeinwohl Europas beitragen müssen. Letztlich zeichne sich neue Aufklärung auch im Bewusstsein aus, dass viele Dinge nicht isoliert gesehen werden können. Lenaerts nennt als Beispiel Themen wie sauberes Wasser, saubere Luft oder nachhaltige Energieversorgung. Österreich bekenne sich beispielsweise seit Jahren zum Atomausstieg, Tschechien hingegen betreibe Atomkraftwerke: „Das gibt Streit zwischen den Mitgliedsstaaten – auch vor dem EuGH.“ Was in einem Mitgliedsstaat geschehe, habe oft direkte Auswirkungen auf den Nachbarn, der keine Stimme bei der Beschlussfassung im Nachbarland habe. „Die einzige Stimme, die der andere Mitgliedsstaat erreichen kann, ist über den Weg der EU, wo die beiden Mitgliedsstaaten – gleich vor dem Unionsrecht – miteinander reden, in Kontakt treten und zu einem vernünftigen Ergebnis kommen.“
Insofern sei die Europäische Union genau das, was Aufklärung bedeute. Man schaue auf die gegenseitigen Interessen, entwickele Sensibilität für das, was den Nachbarn bewegt und trage dem Rechnung. Europa sei nicht irgendein abstraktes Ziel. „Europa ist ein Mittel, um gemeinsam vernünftige Politik zu machen.“ Daher ist er mit der oft gestellten Frage nach mehr oder weniger Europa, vorsichtig. „Das hängt davon ab, worum es geht. Um eine gemeinsame Politik an der Außengrenze zu haben? Ja, da brauchen wir mehr Europa. Wir sollten Frontex größere Ressourcen geben. Wir können den Mitgliedsstaaten, die sich – durch Schicksal – an der Außengrenze befinden, nicht einfach sagen: Das ist euer Problem. Das ist nicht solidarisch.“
Solidarität verlangt nach Verantwortung
Robert Schuman, einer der Gründerväter der EU, sagt Lenaerts, habe schon in seiner großen Rede am 9. Mai 1950 diese Solidarität ganz klar eingefordert. Und Lenaerts legt nach: „Wenn ich die Debatte in vielen Mitgliedsstaaten – nicht nur in Großbritannien – verfolge, ob man Nettozahler sei oder nicht, dann fehlt Solidarität.“ Mehr noch: Wenn das die Grundhaltung gegenüber Europa darstelle, dann sei die Grundlage der Mitgliedschaft in der EU grundsätzlich verfehlt. „Denn die Grundlage beruht auf Solidarität.“ Die aber entbinde niemanden, Verantwortung für das große Ganze zu übernehmen.
Und wie könnte jemand von außen erkennen, ob in Europa der Geist der neuen Aufklärung weht: „Man sollte sehen können, dass die Menschen respektvoll miteinander umgehen, unabhängig von deren Identität.“