Japan: Schulstress bis in die tiefe Nacht

Erster Schultag für ein Mädchen im japanischen Fukushima.
Erster Schultag für ein Mädchen im japanischen Fukushima.(c) REUTERS (CARLOS BARRIA)
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Der Drill beginnt im Kindergarten und steigert sich von Jahr zu Jahr. Massiver Druck in Schulen und Nachhilfeinstituten treibt Kinder an ihre Leistungsgrenzen. Die Stimmung kippt.

Tokio. Als der Zwölfjährige den Aufnahmetest für eine Privatschule nicht schaffte, stach der Vater mit dem Küchenmesser zu. Es war zum Streit gekommen, weil sein Sohn sich angeblich nicht ausreichend für die Eintrittsprüfung vorbereitete habe, gab der 48-Jährige als Motiv an. Später räumte er ein, dass es ihm um das verlorene Schulgeld leid tat und er auch deswegen in Panik geraten war, weil die Familie für die Ausbildung einen hohen Kredit aufgenommen hatte. In Japan rechnet man für eine 14-jährige Schuldbildung vom Kindergarten bis zur Hochschulreife mit bis zu 200.000 Euro pro Kind.

Dabei war der Bub alles andere als faul. Bereits um 5 Uhr morgens sei er aufgestanden, um zu büffeln, sagte die Mutter, die zum Zeitpunkt der Bluttat bei der Arbeit war. „Jeden Tag zieht er sich an, frühstückt allein und lernt dann, bis er zur Schule geht.“ Nicht viel anders am Nachmittag. „Hausaufgaben, um 16 Uhr ein leichtes Essen und dann zur freiwilligen Paukschule. Wenn um 22 Uhr der Nachhilfeunterricht beendet war, gab es Abendessen und dann hieß es weiterlernen, bis ich ihn nach Mitternacht ins Bett gezwungen habe“, schilderte die Mutter den angeblich mangelnden Lerneifer.

Aussicht auf Laufbahn als Beamte

Es war ein besessenes Pauken für den Aufnahmetest einer Renommierschule. Die Plätze an elitären Bildungsinstituten sind in Japan hart umkämpft, weil im Prinzip nur diese Schulen einen sicheren Werdegang in die Topliga der Gesellschaft garantieren. Die Lernlaufbahn beginnt bereits in der frühen Kindheit, denn die meisten haben bereits eine stressige Kinderkrippe und einen anstrengenden Kindergarten absolviert, der den Kleinen nach westlichen Maßstäben ein immenses Pensum abverlangt.

Dort müssen sie mindestens das 50 Schriftzeichen umfassende Silbenalphabet Hiragana lernen, dessen Kenntnis beim Schulanfang vorausgesetzt wird. Schon im Kindergarten sollen die Kinder möglichst beste Zensuren schreiben, denn das Abschneiden der Kindergarten-Absolventen entscheidet wiederum darüber, welche Schule die Mädchen und Buben besuchen dürfen.

Mit dem Erreichen des sechsten Lebensjahres geht jedes japanische Kind offiziell und pflichtgemäß in die Schule. Und dort nimmt der Leistungsdruck richtig zu. Japanische Bildungsstätten, darin sind sich Experten einig, zählen zu den schwierigsten weltweit. Und seit eine lebenslange Anstellung in japanischen Firmen kein ehernes Gesetz mehr ist, gewinnt die Ausbildung noch mehr an Bedeutung. Das höchste Ziel für Eltern und Zöglinge gleichermaßen ist ein Studium an den staatlichen Topuniversitäten Tokio (Todai) und Kyoto (Kyodai), da deren Absolventen eine relativ zukunftssichere Laufbahn als elitäre Beamte bevorsteht.

Aber bis dahin ist es ein weiter und anstrengender Weg. Dem Besuch der dreijährigen Grundschule folgt die sechsjährige Mittelschule. Diese neun Jahre sind für jedes Kind obligatorisch. Danach gehen noch rund 94 Prozent der Schüler auf eine Gymnasialoberschule, die drei Jahre dauert. Damit ist der Abiturientenanteil in Japan weitaus höher als in den meisten westlichen Ländern.

Die gnadenlose schulische Orientierung nur auf Prüfungen staut zu viele Aggressionen an, sagen selbst einheimische Experten. Es fehlen Sport- und Kulturveranstaltungen zum Austoben und vor allem zum Spaß. In Japan wird nicht nur tagsüber in der Schule gebüffelt, sondern darüber hinaus fast jeden Abend nachgesessen. Von klein auf, bisweilen sogar schon im Kindergartenalter, füllen Freizeitpädagogen in sogenannten Juku-Privatschulen gegen hohe Gebühren Mädchen und Buben allabendlich mit Wissen ab. Das ist Schulstress total bis zur physischen und psychischen Grenze – für Freizeit haben die meisten Söhne und Töchter Nippons während der Schule keine Zeit.

Keine Schwächen zeigen

Indirekt begünstigt wird dieses anstrengende Schulleben auch von Lehrern. Aber das größte Übel liegt wohl im mangelnden Vertrauen der Kinder zu den Eltern. Nobuto Hosaka, ein Fachjournalist für Erziehungsfragen, zeichnet ein befremdliches Bild.

In vielen japanischen Familien stehe man sich nicht so nahe, dass man sein wahres Ich zeigen könne. Die Eltern würden sich als perfekte Familie präsentieren und die Kinder sich als gute Schüler darstellen. Keiner könne Fehler zugeben und Schwächen zeigen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2016)

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