Syrien: Bahnt türkische Invasion Extremisten den Weg?

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In der kurdisch geprägten Föderation Rojava wird eine demokratische Ordnung geprobt. Doch als Konsequenz der türkischen Invasion könnten auch radikale Islamisten in der Region Fuß fassen – und das Experiment beenden.

Gaziantep. Es ist ein altes, ebenerdiges Wohnhaus, in dem das Orhoy-Sprachinstitut in einem christlichen Viertel Kamischlis untergebracht ist. Mit seinem idyllischem Hinterhof ist der Flachbau typisch für den ländlichen Norden Syriens. Die Direktorin der Schule, Nancy Eissa, hat mit anderen Lehrerkollegen mehrere Monate für die Renovierung gebraucht. Als die Schule im Mai eröffnet wurde, war die Freude groß. Endlich konnten sie Syrisch-Aramäisch, die moderne Sprache der Christen, völlig frei unterrichten. Unter dem Assad-Regime war das nie möglich gewesen. Trotzdem regten sich schon damals Zweifel.

Die Region Rojava hat sich gerade eigenmächtig als Föderation von drei Kantonen mit eigener Regierung gegründet. „Haben wir alles richtig gemacht?“, fragt die junge Direktorin Eissa. „Werden sie unsere Demokratie anerkennen oder wird alles umsonst gewesen sein?“ Dabei klopfte die 30-Jährige nervös auf eine der uralten Schulbänke. „Alles wird gut“, meint sie dann nach einem kurzen Schweigen.

Mit ihrer Zuversicht dürfte es heute vorbei sein. Der Grund dafür ist die türkische Invasion in ihr Heimatland. Ankara kooperiert dafür mit sogenannten moderaten Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA). Offiziell sollte sich die Militärintervention gegen den Islamischen Staat (IS) richten.

Anschlagserie in Regimegebiet

Die Terrormiliz meldete sich am Montag mit einer Anschlagserie in Städten unter Regimekontrolle zurück. In Tartus, Homs, Damaskus und in Hasaka detonierten Bomben, Dutzende Menschen wurden getötet. Das IS-Sprachrohr Amaq berichtete, vor allem Militärangehörige seien den Angriffen zum Opfer gefallen.

Während der IS militärisch zusehends bedrängt wird, scheint die türkische Invasion nur ein Vorwand zu sein, um gegen die aus türkischer Sicht „terroristische“ Kurdenmiliz YPG und die selbstverwaltete Demokratie in Rojava vorzugehen. Beides gilt in Ankara als „akute Bedrohung der nationalen Sicherheit“.

Allerdings führt die Türkei dabei Krieg gegen alle Bevölkerungsgruppen, die die kulturelle Vielfalt und den Reichtum des ethnisch-pluralistischen Syriens ausmachen. Denn in Rojava sind Araber, Turkmenen, Armenier und Assyrer ein integraler Bestandteil des Militärs, der Politik und Administration. Da lassen sich Kurden als einziges Angriffsziel nicht herausrechnen. Ankara trifft alle und hat das in den ersten Tagen der Intervention auch deutlich gemacht – das ist Absicht.

Die türkische Artillerie feuerte nicht nur ins eigentliche Zielgebiet der Offensive bei Jarablus. Granaten fielen entlang der Grenze auf syrisches Gebiet, auch noch im 430 Kilometer entfernten al-Malikia. Die Schuldirektorin Eissa dürfte sich umso mehr verloren vorgekommen sein, als anfangs die Unterstützung vom großen Verbündeten in Washington ausgeblieben war. Die territoriale Integrität Syriens müsse gewahrt bleiben, eine Zerstückelung des Landes käme nicht nicht infrage: Das hatte US-Vizepräsident Joe Biden unmittelbar nach Beginn der türkischen Militärintervention bei seinem Besuch in Ankara verkündet. Natürlich konnte er damit nur Rojava meinen. Dabei hatte das Pentagon mit Angriffen, Waffen und Beratern die multiethnische Militärallianz der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) dieser Region unterstützt.

Mittlerweile haben die USA wieder Position gegen die Türkei bezogen und einen Waffenstillstand ausgehandelt. Man wollte nicht tatenlos zusehen, wie die SDF von den FSA-Rebellen angegriffen werden, die ja als moderat gelten und ebenfalls von Amerika ausgerüstet sind. In den vergangenen Tagen konzentrierten sich die Türkei und die FSA auf Ziele der IS-Terrormiliz westlich von Jarablus und drängten die Jihadisten auf breiter Linie zurück. „Von Azaz bis Jarablus wurden 91 Kilometer unserer Grenzlinie mit Syrien gesichert“, verkündete der türkische Premier, Binali Yıldırım. Nun könnte Ankara in aller Ruhe gegen die nächste „Terrorgruppe“, den SDF, vorgehen.

Militärrat übernahm Kontrolle

Bereits letzte Woche sind die Verbände der YPG, wie von der Türkei gefordert, aus der Stadt Manbij abgezogen und haben den Euphrat Richtung Ostufer überquert. Die Kontrolle der erst im August vom IS zurückeroberten Stadt wurde einem örtlichen Militärrat übergeben. Aber das ist der Türkei und den FSA-Rebellen nicht genug. „Das sind doch alles Kurden der YPG und ihre Handlanger, alles Gangster“, sagt Ahmad Berri, Stabschef der FSA, verächtlich. „Sie müssen alle verschwinden.“ Der 58-Jährige nippt an seinem eiskalten Orangensaft auf der Terrasse des Starbucks Cafés in der türkischen Stadt Gaziantep.

Der Hass gegen die Kurden sitzt tief. In Berris Augen sind sie Verräter der syrischen Revolution und miese Kollaborateure des Regimes. „Die tun so, als ob ihnen arabische Städte wie Manbij gehören, dabei gibt es dort keine Kurden.“ Das entspricht zwar nicht den Tatsachen, aber das ist Berri und auch anderen FSA-Kommandeuren egal. Geht es nach ihnen, wird es nie ein autonomes Rojava in einem neuen syrischen Staat geben. „Es gibt nur Syrer, keine Kurden oder sonst etwas“, behauptet Berri.

Demokratieprojekt in Rojava

Für die Menschen in Rojava bedeutet ein Wiedererstarken der FSA nichts Gutes. Schließlich waren es einige FSA-Brigaden, die zusammen mit dem al-Qaida-Ableger, der al-Nusra-Front, 2013 mehrfach vergeblich versuchten, die erdölreiche Region zu erobern. Als Partner in einer demokratischen Gesellschaft dürfte die FSA wenig taugen. Dazu steht sie islamistischen Gruppen viel zu nahe. Selbst die al-Nusra-Font, die sich kürzlich vom Terrornetzwerk al-Qaida offiziell lossagte und nun „Armee der Eroberer der Levante“ heißt, kommt für eine Kooperation infrage. „Sie haben sich gewandelt und die meisten Extremisten haben die Gruppe verlassen“, meint FSA-Stabschef Berri. „Wenn sie jetzt noch Abschied von ihren ausländischen Kämpfern nehmen, könnte wir auch über eine Zusammenarbeit nachdenken.“

Bei diesen Worten kann man sich gut vorstellen, wie sich bei Eissa, der jungen Direktorin des Orhoy-Instituts, und auch bei anderen Bewohnern Rojavas Angst breitmacht.

Niemand will hier einen islamischen Staat, von dem die Ex-Nusra-Front in Syrien träumt – selbst dann, wenn sie vom Jihad wirklich Abschied genommen haben sollte. Es wäre ein Albtraum im Vergleich zum bestehenden Demokratieprojekt in Rojava. Hier haben Frauen gleichberechtigt politische Ämter inne und kleiden sich nach ihrem Gusto. Damit wäre es vorbei, sollten die FSA und ihre islamistischen Konsorten das Sagen haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2016)

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