Die deutsche Kanzlerin zeigt nach dem CDU-Debakel am Sonntag erstmals einen Anflug von Selbstkritik, will aber ihren Kurs beibehalten. Nach der Berlin-Wahl könnte es zum Aufstand in der Partei kommen.
Berlin. Es kommt nicht oft vor, dass sich die deutsche Bundeskanzlerin am Rand eines G20-Gipfels – noch dazu in China – zu einem innenpolitischen Thema äußert. Eigentlich so gut wie nie. Aber dieses Mal konnte Angela Merkel nicht anders. Nach dem Wahldebakel am Sonntag in Mecklenburg-Vorpommern – die Union wurde von der AfD auf Platz drei verdrängt – war der Druck zu groß geworden. Vor allem in den eigenen Reihen.
Und deshalb sagte Merkel am Montag, was viele (wenn nicht alle) in der CDU von ihr hören wollten: Sie räumte in einem Anflug von Selbstkritik Fehler ein. Die bundespolitischen Themen hätten in Mecklenburg-Vorpommern alles überlagert, erklärte sie bei der Abschlusspressekonferenz der G20 in Hangzhou. „Der Ausgang der Wahl steht für sich – natürlich hat das etwas mit der Flüchtlingspolitik zu tun.“ In den Augen der Menschen könne man das nicht trennen. „Und deshalb bin ich natürlich auch verantwortlich.“ Eine Kurskorrektur lehnt die Kanzlerin allerdings ab: Sie halte die Entscheidungen, „so wie wir sie getroffen haben“, für richtig – auch das fragile Flüchtlingsabkommen mit der Türkei.
Dieses Wort gilt zumindest bis zur Berlin-Wahl in zwei Wochen (18. September). Sollte ihre Partei dort ähnlich schlecht abschneiden wie im Nordosten des Landes, wird Merkel etwas verändern müssen. Und danach sieht es im Moment aus: Die CDU muss in Berlin mit Verlusten rechnen und könnte sogar auf Platz drei zurückfallen, dieses Mal aber hinter SPD und Grüne. Da wird auch das Argument, man habe zumindest die AfD auf Abstand gehalten, nicht genügen.
Noch aber liegen die Nerven in der Union nicht blank. Oder jedenfalls nicht flächendeckend. Die Schwesterpartei CSU, mit der Merkel seit Monaten im Clinch liegt, hat das Wahlergebnis in Mecklenburg-Vorpommern einen „Weckruf für die Union“ genannt und daraus die Forderung nach einer Flüchtlingsobergrenze abgeleitet. „Die Stimmung der Bürger lässt sich nicht mehr ignorieren“, sagte Bayerns Finanzminister, Markus Söder, der „Bild“ und den „Nürnberger Nachrichten“.
Aus der CDU wagte sich nur der Abgeordnete Wolfgang Bosbach, der allerdings schon das Ende seiner Karriere angekündigt hat, aus der Deckung: Die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin, die zur Einreise Hunderttausender Menschen geführt habe, sei „ein großes Problem“. Viele Unionswähler hätten ihre politische Heimat verloren und sich den Rechtspopulisten zugewandt. Der Rest der Partei schwieg – vorerst. Bis zur Berlin-Wahl kann die Kanzlerin Loyalität erwarten. Aber danach werden sich führende CDU-Politiker nicht mehr zurückhalten – auch mit Blick auf den Parteitag im Dezember, bei dem Merkels Wiederwahl ansteht.
SPD-Chef Gabriel wittert seine Chance
Montagfrüh hat sich die Unionsspitze zu einer Krisensitzung getroffen. Auch Merkel war aus China zugeschaltet. Dem Vernehmen nach soll sie dabei relativ entspannt für ein Kurshalten plädiert haben – mit dem Argument, man brauche noch Zeit. Nach dem G20-Gipfel bat sie die Wähler dann um Geduld: „Alle müssen nachdenken, wie wir das Vertrauen zurückgewinnen können. Allen voran natürlich ich.“ Aber eine Obergrenze lehnt Merkel weiterhin ab. Diese Debatte bringe das Land angesichts sinkender Flüchtlingszahlen nicht weiter, hieß es aus der CDU.
Die Konkurrenz wittert ihre Chance gegen eine geschwächte Kanzlerin, vor allem der Koalitionspartner. SPD-Chef Sigmar Gabriel, der am Sonntag in seinen Ambitionen, Parteichef zu bleiben und Kanzlerkandidat zu werden, gestärkt wurde, grenzt sich nun bewusst von Merkel ab: „Wir haben ganz viel Zeit durch unnötige Diskussionen vertan“, so der Vizekanzler. Die SPD habe ein Integrationskonzept vorgelegt, „lang bevor wir es in der Regierung beschließen konnten, weil Frau Merkel es bei dem Satz belassen hat: ,Wir schaffen das.‘“ Die AfD rief inzwischen den Anfang von Merkels Ende aus. Die Kanzlerin stürze sich gerade selbst, sagte Parteichefin Frauke Petry dem TV-Sender Phoenix.
Ein Jahr vor der Bundestagswahl hat der Wahlkampf offenbar begonnen.
AUF EINEN BLICK
Nach der Landtagswahl am Sonntag in Mecklenburg-Vorpommern, bei der die CDU nur Dritte hinter der SPD und der AfD wurde, steht die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin stärker denn je zur Disposition. Angela Merkel will ihren Kurs allerdings nicht ändern. Ihre Partei hält sich vorerst mit Kritik zurück. Man will noch die Berlin-Wahl am 18. September abwarten.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2016)