Entschärft die geldpolitische Zeitbombe!

Headquarters of the European Central Bank (ECB) is seen illuminated with a giant euro sign at the start of the 'Luminale, light and building' event in Frankfurt
Headquarters of the European Central Bank (ECB) is seen illuminated with a giant euro sign at the start of the 'Luminale, light and building' event in FrankfurtREUTERS
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Vor der EZB-Zinssitzung richtet Risikomanager Sikandar Siddiqui einen dramatischen Appell an die Währungshüter.

Der Blick auf das Portal des Medienunternehmens Bloomberg war vielleicht noch nie etwas für schwache Nerven; heute aber ist er das womöglich weniger denn je. Unlängst hat dort nämlich Lisa Abramowicz (2016) konstatiert, dass die ultra-expansive Geldpolitik der EZB mittlerweile sogar die Renditen von Schuldverschreibungen bonitätsschwacher "Speculative Grade"-Emittenten in die Nähe auf null oder darunter gedrückt hat.

Renditesuchende Anleger werden durch die Folgen dieser Politik sehr wahrscheinlich dazu veranlasst, das ihnen zur Verfügung stehende Kapital in immer riskantere Aktiva zu investieren, um überhaupt noch positive Renditen zu erzielen. Ebenso wahrscheinlich werden findige Anbieter die steigende Nachfrage nach derartigen Anlageformen mit immer neuen und komplexeren (im gängigen Jargon "Finanzinnovationen" genannten) Varianten legalen Glücksspiels zu befriedigen suchen. Da viele Teilnehmer an diesen Spielen sicher sein können, erhebliche Teile der möglichen Folgenverluste ihres Handelns auf hierfür nicht verantwortliche Dritte – ihre Anteilseigner, Darlehensgeber, Kunden und Beschäftigten etwa – überwälzen zu können, fallen Verlustängste als natürlicher Schutzmechanismus vor derart risikosuchendem Verhalten jedenfalls aus.

Wenn sich bei zu vielen derartigen Produkten die ihnen innewohnenden Risiken gleichzeitig in Form tatsächlicher Verluste materialisieren, kann die Folge eine Finanzkrise sein, deren Größenordnung unter ungünstigen Umständen jene der Jahre 2007-2009 bei weitem in den Schatten stellt. Dies ist umso beunruhigender, als das stabilisierungspolitische Instrumentarium der Notenbanken der weltweit führenden Wirtschaftsnationen mittlerweile an der Grenze seiner Wirksamkeit angekommen sein dürfte. Für die öffentlichen Haushalte, die insbesondere in Japan und etlichen Ländern der Eurozone (selbst unter den heutigen Bedingungen) schwer an den Folgelasten überdosierter, kreditfinanzierter Ausgabenprogramme aus der Vergangenheit tragen, dürfte Gleiches gelten.

Lösung außerhalb des "ordnungpolitisch richtigen" Rahmens

Soll eine sonst drohende, chaotische Implosion des derzeitigen Finanzsystems vermieden werden, so dürfen auch Lösungsideen kein Tabu sein, die unter gewöhnlichen Bedingungen aus gutem Grund mit ordnungspolitischen Denkverboten belegt sind. Zu erwägen wäre konkret ein teilweiser, einseitiger, stufenweiser und an die Pflicht zur Einhaltung einschneidender (fiskal-) politischer Spar- und Reformvorgaben gebundener Verzicht der Notenbanken auf die Tilgung öffentlicher Anleihen, die von ihnen im Zuge zurückliegender Runden "unkonventioneller" geldpolitischer Maßnahmen erworben worden sind. Im Gegenzug sollten in diesem Fall die noch laufenden Ankaufprogramme für Schuldverschreibungen öffentlicher und privater Emittenten nach und nach auslaufen, um eine langsame Rückkehr der Geldmarktzinsen für risikoarme Anlageformen in den positiven Bereich zu ermöglichen.

Da die Zentralbankgeldmenge in den davon betroffenen Währungsräumen durch eine derartige Aktion nicht verändert werden würde, wäre aus rein quantitätstheoretischer Sicht nicht zu erwarten, dass aus ihr ein unmittelbarer Inflationsimpuls resultiert. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass durch das Ausbleiben der nunmehr erlassenen Tilgungszahlungen der dämpfende Effekt, den die Entrichtung dieser Zahlungen ansonsten in Zukunft auf das Wachstum der aggregierten Nachfrage entfaltet hätte, wegfällt. Es liegt also auf der Hand, dass der zu erwägende, teilweise Forderungsverzicht der Notenbanken nicht auf einen Schlag und in großem Umfang, sondern – ganz im Geist von Poppers (1957) Konzept des Piecemeal Social Engineering – über längere Zeiträume in vielen kleinen Schritten vollzogen werden sollte. Unerwünschten Folgewirkungen eines solchen Handelns – etwa einem inflationstreibenden "Überschießen" der aggregierten Nachfrage über den Wachstumspfad des Produktionspotenzials – ließe sich im Falle einer derart gradualistischen Lösungsstrategie leichter durch entgegengerichtete, "konventionelle" geldpolitische Maßnahmen begegnen.

Es liegt auf der Hand, dass eine derartige Vorgehensweise auf eine (wenn auch teilweise und an Bedingungen geknüpfte) monetäre Alimentierung öffentlicher Haushaltsdefizite hinausliefe, die zumindest dem Geist, vielleicht sogar dem Buchstaben von Artikel 123 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union zuwiderliefe und ordnungspolitische Hardliner nicht ohne Grund auf die Barrikaden triebe. Doch wenn vertragliche Regelungen der Abwendung einer existenziellen Notlage im Wege stehen, ist es zumindest erwägenswert, diese zu ändern oder stillschweigend zu ignorieren. An Gegner des hier skizzierten Vorgehensmodells ergeht daher an dieser Stelle die Bitte, nicht bloß ordnungspolitische Grundsätze und juristische Klauseln zu rezitieren, sondern praktikable Alternativen zu benennen.

Die geldpolitische Zeitbombe, die infolge des derzeitigen politischen Kurses bis auf Weiteres unter unseren Füßen tickt und von Tag zu Tag an Sprengkraft zunimmt, darf nicht explodieren.

Der Autor

Sikandar Siddiqui, Jahrgang 1967, ist als Risikomanager für Frankfurt School Financial Services GmbH tätig. Er promovierte 1992 im Fach Ökonometrie bei Professor Winfried Pohlmeier (Universität Konstanz).

Kooperation

Dieser Artikel wurde für "Ökonomenstimme", die Internetplattform für Ökonomen im deutschsprachigen Raum, erstellt. Die Presse ist exklusiver Medienpartner der Ökonomenstimme.

Literatur

Abramowitcz, L. (2016): Companies Get Paid to Be Junk in Europe. Bloomberg Gadfly, 2. September 2016.

Popper, K. R. (1957): The Poverty of Historicism. Lonon (Routledge & Kegan Paul).

Schulz, B. (2012): Schuldenquote: Debatte über Schuldenerlass durch Notenbank. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Oktober 2012.

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