Sitzenbleiben: "Teuer, aber ohne Nutzen"

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Bildungsexperten stützen den Vorstoß der Unterrichtsministerin - Schmied solle nicht ständig "mit Einzelmaßnahmen vorpreschen", richtete ihr Vizekanzler Pröll aus. Bei der Bildungsreform brauche man kein "Flickwerk".

Wien.Unterrichtsministerin Claudia Schmied hat es wieder einmal geschafft: Mit dem Vorschlag, das Sitzenbleiben abzuschaffen, sorgte sie – noch dazu kurz vor der Regierungsklausur – erneut für grobe Verärgerung bei Koalitionspartner ÖVP und schwarzen Lehrervertretern. Ein „populistischer Schnellschuss“ der umstrittenen SPÖ-Ministerin, hieß es am Wochenende. Schmied solle nicht ständig „mit Einzelmaßnahmen vorpreschen“, richtete ihr Vizekanzler Josef Pröll (ÖVP) am Montag auf der Klausur aus. Bei der Bildungsreform brauche man kein „Flickwerk“.

Rückenwind für die Ministerin kommt aber von Österreichs Bildungsexperten: Teuer, psychisch belastend und dennoch wenig erfolgversprechend sei das Wiederholen von Schulstufen, so die Kritik. „Wir wissen, dass das Sitzenbleiben weder dem Schüler noch dem System Nutzen bringt“, sagt Josef Lucyshyn, Direktor des Bundesinstituts für Bildungsforschung (Bifie), das auch die neue Zentralmatura erarbeitet.

Schulangst und Selbstzweifel

Besonders kritisch seien die psychischen Auswirkungen der „Ehrenrunde“: „Es leidet nicht nur das Selbstwertgefühl“, so Bildungspsychologin Christiane Spiel. „Auch soziale Kontakte zu Klassenkollegen gehen verloren.“ Dazu kämen Schulangst und familiäre Probleme. „Das Wiederholen einer Klasse wird nicht als Unterstützung erlebt, sondern als Bestrafung.“

Der Nutzen ist demgegenüber gering, besagt die Statistik: Im Jahr bleiben rund 23.000 der 1,2 Millionen Schüler sitzen – mehr als ein Drittel von ihnen schafft die Schulstufe auch im zweiten Anlauf nicht. In der AHS-Oberstufe sind 37,5 Prozent der Repetenten erneut negativ, an BMS 35,1 Prozent.

Das ist kein Wunder, sind sich die Experten einig: „Eine spezielle Förderung gibt es für die Schüler zumeist nicht“, sagt Bildungswissenschaftlerin Spiel. „Und was soll es bringen, all das, was ich nicht verstanden habe, einfach noch einmal zu hören?“ Oft komme es gar zur Verschlechterung der Leistungen, sagt Lucyshyn, vor allem in den anderen Fächern: „Einen Schüler 15 Gegenstände wiederholen zu lassen, nur weil er in einem nicht gut genug war, ist Unsinn.“

Groß ist auch die finanzielle Belastung. Genaue Zahlen gibt es bis heute nicht – Schätzungen belaufen sich auf bis zu 900 Millionen Euro pro Jahr. Rund 580 Millionen Euro müssten laut Arbeiterkammer die Familien tragen, etwa für Nachhilfe. 300 Millionen Euro fallen für den Staat an – unter anderem für den Schulplatz. Darüber hinaus schwer zu berechnen ist der Verdienstentgang durch den späteren Eintritt ins Arbeitsleben.

Organisatorisch sei die Abschaffung des Sitzenbleibens kein Problem, sagen die Experten. Woran es bis heute mangle, sei schlicht der politische Wille, so Lucyshyn, der für das rasche Ende des Sitzenbleibens plädiert. Nötig sei im Gegenzug die Einführung individueller Fördermaßnahmen für jeden Schüler. „Wir müssen die Defizite rascher erkennen und gegensteuern.“ Die Direktoren würden dazu mehr Autonomie benötigen.

Auch Spiel ist für die Abschaffung, nur für Kinder mit Entwicklungsverzögerungen solle es Ausnahmen geben. Auf das oft versprochene bildungspolitische Gesamtkonzept will sie nicht länger warten: „Irgendwo müssen wir beginnen. Sonst wird das nie was.“

Stillstand seit 1995?

Ein Blick in die jüngere Vergangenheit scheint ihr recht zu geben: Diskutiert wird über das Sitzenbleiben seit 15 Jahren, bereits Bildungsministerin Elisabeth Gehrer (ÖVP) ließ 1995 eine Kommission zum Thema einrichten. Freilich ohne große Ergebnisse. Heute ist Österreich eines der letzten Länder in Europa, in denen es die Klassenwiederholung noch gibt.

Bei Schmieds Vorstoß von einem Schnellschuss zu sprechen, sei daher „wohl ein schlechter Witz“, so der Bildungsexperte und ÖVP-Politiker Bernd Schilcher. „Wenn man, wie Beamtenchef Fritz Neugebauer, immer den Finger auf die Kanone hält, gibt es gar nie einen Schuss.“

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Schmied sieht ihr Vorhaben als „Regierungsmaßnahme“. Schließlich sei die Reduzierung der Wiederholungen im gemeinsamen Koalitionspakt festgeschrieben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2009)

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