Als Winston Churchill die Schweizer überforderte

Winston Churchill beim Malen in der Schweiz
Winston Churchill beim Malen in der Schweiz(c) imago stock&people
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Am 19. September 1946 sprach der frühere britische Premierminister an der Universität Zürich über seine Vision von "Vereinigten Staaten von Europa".

„Wir verlassen nicht Europa, wir verlassen die Europäische Union.“ Es war der 2. September 2016 als der gerade gekürte britische Außenminister Boris Johnson diese Worte sprach. Keine zweieinhalb Monate war das Brexit-Votum her, jenes Referendum, im Zuge dessen 51,9 Prozent seiner Landsleute für den Austritt aus dem aus 28 Staaten bestehenden Bund stimmten. Und Johnson fügte hinzu: „Wir wollen eine starke Europäische Union, und wir wollen aber auch ein starkes Vereinigtes Königreich.“ Seine Worte werden in den Ohren so mancher noch lange nachhallen. Manch andere werden sie an die Sätze eines anderen Briten erinnern. Gesprochen in einer ähnlich turbulenten Zeit. Während es heute die Flüchtlings-, Krim- und Finanzkrise sind, die den Kontinent beuteln, waren es damals die Nachwehen des Zweiten Weltkrieges und der aufwallende Kalte Krieg, die die europäischen Länder an einen Wendepunkt brachten.

Es war der 19. September 1946 als Winston Churchill am Bahnhof Zürich-Enge aus einem Zug stieg. Eigentlich war er mit seiner Tochter in die Schweiz gekommen, um zu urlauben, stattdessen aber sollte er eine Rede halten – eine Ansprache, die noch Jahrzehnte nach seinem Tod bedeutsam sein sollte. Ort des Geschehens war ein Saal im ersten Stock der Universität Zürich. Rund 100 Personen hatten sich hier versammelt, um dem 71-Jährigen zuzuhören, der erst ein Jahr zuvor als Premierminister abgewählt und auf die Oppositionsbank verdrängt worden war. „Er hat die Rede am Vorabend geschrieben, hat sich ein paar Notizen gemacht“, sagt Dieter Ruloff, Professor für Internationale Politik dem „Deutschlandradio“. „Aber das muss man können.“

Und Churchill konnte. Er hatte eine Vision, die er schon 1930 in einem Artikel der „Saturday Evening Post“ niedergeschrieben hatte: „Wir sind mit Europa, aber nicht in Europa; mit ihm verbunden, aber nicht eingeschlossen. Wir sind interessiert und assoziiert, aber nicht absorbiert“, schrieb er damals. 16 Jahre später klang das so: „Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten. (…) Kleine Nationen werden genauso viel zählen wie große, und sie werden sich ihren Rang durch ihren Beitrag für die gemeinsame Sache sichern.“ Bei allem Gemeinschaftssinn, vergaß Churchill auch diesmal nicht, die Sonderrolle des Vereinigten Königreichs hervorzukehren: „Großbritannien, das britische Commonwealth, das mächtige Amerika, und – so hoffe ich wenigstens – Sowjetrussland – dann wäre wirklich alles gut – sollen die Freunde und Förderer des neuen Europa sein und dessen Recht, zu leben und zu leuchten, beschützen.“

Winston Churchills Rede an der Universität Zürich:

Mastermind hinter Churchills Besuch war sein Mallehrer Charles Montag, der diesem Entspannung und damit Malen in der Schweiz angeraten hatte. Die Schweizer Industriellen wiederum versprachen sich vom Aufenthalt (23. August bis 20. September 1946) des einstigen Premiers eine imagefördernde Wirkung. Entsprechend aufwendig gestalteten sich die Vorbereitungen. Wie die „Neue Züricher Zeitung“ (NZZ) anlässlich des 70. Jahrestages des Ereignisses berichtet, wurde für den Staatsmann eine Villa am Ufer des Lac Léman angemietet, wo er malte, telefonierte, zahlreiche Gäste und noch mehr Geschenke (Blumen, Zigarren, Bücher, Wein, Kuchen und etliches mehr boten die Schweizer auf) erhielt. Um die Villa waren um die zwanzig Polizisten stationiert, zudem wurden Churchill vom Bundesrat zwei Emissäre zur Seite gestellt.

Die Bemühungen, insbesondere jener sicherheitspolitischer Art, zielten aber nicht nur auf das Wohlergehen des Briten ab, sondern waren auch einer enormen Nervosität der Schweizer Behörden geschuldet. Grund dafür war eine andere Rede Churchills, jene, die er im März desselben Jahres gehalten und in der er von einem „Eisernen Vorhang“, der sich von der Ostsee bis an die Adria über den Kontinent gezogen habe, sprach – und die dem sowjetischen Führer Josef Stalin so gar nicht gefallen hatte. Nun fürchtete die Schweiz, dass sich ähnlich Provokantes innerhalb ihrer Landesgrenzen wiederholen könnte. So zeugen die Zeilen, die der damalige Zürcher Regierungspräsident Hans Streuli an Bundesrat Max Petitpierre schrieb, von einer deutlichen Unruhe: „Sollte der Bundesrat Bedenken gegen die Rede haben, dann möchten wir Sie – wie ich das schon Bundesrat Etter gegenüber getan habe – bitten, die Angelegenheit mit Herrn W. Churchill direkt zu ordnen.“ Petitpierre versuchte daraufhin zu beschwichtigen: Man könne zwar keine Verantwortung für die Kundgebung übernehmen, doch finde diese ohnehin nicht öffentlich statt und es sei zugesagt worden, dass die Rede „im Wesentlichen eine Ermunterung der Jugend darstellt“.

Eine lateinische Ehrenurkunde als Zeichen der Verlegenheit

In das unruhige Bild von damals passt auch eine sich windende universitären Führung. Montag hatte diese gebeten, Churchill den Ehrendoktortitel „Dr. h. c.“ zu verleihen. In Vorbereitung auf Churchills Besuche hatte es eine Sondierungsrunde gegeben, die ergeben hatte, dass manche Fakultäten wohl Widerstand gegen eine Verleihung leisten könnten. „Da man ein offizielles Nein bei einer formellen Abstimmung unbedingt vermeiden wollte, entschied sich die Universitätsleitung gegen die Machtprobe mit den ängstlichen Professoren bzw. solchen, die für Hitlerdeutschland Verständnis oder gar Sympathien gehegt hatten. Das infamste Argument gegen eine Ehrenpromotion war dasjenige, dass akademische Ehrungen für Politiker problematisch seien“, schrieb dazu die „NZZ“. 

Montag ließ sich davon nicht entmutigen, beharrte auf einer Ehrung, sodass Rektor Ernst Anderes letztlich zu einem Kunstgriff ausholte: Man überreichte Churchill eine ins Lateinische übersetzte „Ehrenurkunde“ - wohl unwissend, dass der Brite in seiner Jugend kein Fach so verabscheut hatte wie Latein. Churchills Laune konnte das aber nicht trüben, zumindest nicht merklich. Dafür verantwortlich waren wohl auch die zehntausenden Menschen, die auf die Straßen liefen, um jenen Mann zu feiern, in dem sie den Retter Europas sahen.

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