Im Europaparlament stellte der Kommissionspräsident die Prioritäten für die kommenden zwölf Monate vor. Oberste Devise: Die Mitgliedstaaten bei der Stange halten und den Populisten keine Munition liefern.
Brüssel/Straßburg. Zwölf Monate können einen großen Unterschied ausmachen. Bei seiner Rede zur Lage der Europäischen Union vor einem Jahr hatte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker noch davon gesprochen, dass die Union schon bessere Zeiten erlebt habe. Bei seiner diesjährigen Ansprache im Straßburger Plenum des Europaparlaments legte Juncker rhetorisch nach: „Die EU befindet sich in einer existenziellen Krise“, befand der Kommissionspräsident. Und im Lauf der nächsten zwölf Monate werde sich weisen, ob Europa die schwerste Krise seit dem Beginn des Integrationsprozesses in den 1950er-Jahren meistern könne.
Dass die Ausgangslage heute anders ist als 2015, hat mit drei Faktoren zu tun: Brexit, Flüchtlingskrise, Populismus. Das britische Votum für den Austritt aus der EU hat die alte Gewissheit zerstört, wonach der europäische Integrationsprozess unumkehrbar ist. Junckers Versuch, die Aufteilung der in Europa ankommenden Flüchtlinge auf alle Mitgliedstaten, hat die Union entzweit, alte Gräben zwischen West und Ost wieder aufgerissen – und Populisten Munition geliefert. Dass in Polen die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit von Jarosław Kaczyński mit absoluter Mehrheit regieren und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit untergraben kann, hat Europa nicht zuletzt dem Hickhack um verbindliche Flüchtlingsquoten zu verdanken.
Junckers gestrige Rede war der Beweis dafür, dass der Kommissionspräsident aus den Turbulenzen des vergangenen Jahres mindestens vier Lektionen gelernt hat. Erstens: Keine neuen Fronten eröffnen, stattdessen in die Rolle des Friedensstifters schlüpfen. Der Verweis auf die „große polnische Nation“ und die Verurteilung rassistisch motivierter Gewalttaten gegen polnische Arbeiter in Großbritannien waren der Versuch, Warschaus Empfindlichkeiten ernst zu nehmen. Lektion Nummer zwei: Nicht die Mitgliedstaaten mit föderalistischen Plänen vor den Kopf stoßen. Er wolle die Integration nicht mit der Brechstange erzwingen und „nicht mehr, aber ein besseres Europa“, versprach Juncker. Drittens: Kein Futter für die Populisten. Das heikle Thema des transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP ließ der Kommissionspräsident während seiner knapp einstündigen Rede unter den Tisch fallen. Stattdessen präsentierte er – Lektion Nummer vier – eine Vielzahl konkreter Maßnahmen, die kein politisches Kapital verbrauchen, aber konkreten Nutzen bringen.
Investitionen
Juncker kündigte eine Aufstockung des europäischen Investitionsfonds EFSI an, dessen Hauptzweck es ist, die marode europäische Wirtschaft anzukurbeln. Bis dato wurden Projekte mit mehr als 100 Mrd. Euro finanziert, nun soll die Laufzeit des Fonds verlängert und sein Volumen maximiert werden – auf 500 Mrd. Euro bis 2020 und auf 630 Mrd. Euro bis 2022.
Flüchtlingskrise
44 Mrd. Euro will der Kommissionschef in einen Hilfsfonds für Afrika pumpen – sofern die EU-Mitglieder ihren Beitrag leisten, könnte das Gesamtvolumen des Fonds auf 88 Mrd. Euro steigen. Hauptzweck ist die Finanzierung von Projekten, die verhindern sollen, dass immer mehr Afrikaner versuchen, illegal nach Europa zu gelangen.
Grenzsicherung
Bis Jahresende will die Brüsseler Behörde einen Plan zur Schaffung eines europäischen Reiseinformationssystems (European Travel Information System, ETIAS) nach dem Vorbild der USA präsentieren. EU-Ausländer, die in die Union einreisen wollen, müssten sich dann vor Reisebeginn online registrieren. „Wir müssen wissen, wer zu uns kommt, bevor die EU-Außengrenze passiert wird“, sagte Juncker. Ab Oktober sollen zudem 200 EU-Grenzschützer helfen, die bulgarische EU-Außengrenze zu sichern.
Assistenzeinsatz
Um Europas Jugendliche zusammenzuführen und ihre Arbeitskraft zu nutzen, plant Juncker die Schaffung eines europäischen Solidaritätskorps, mit 100.000 freiwilligen Mitgliedern bis zum Jahr 2020, die beispielsweise für Katastrophenhilfe eingesetzt werden sollen.
Außenpolitik
Der Kommissionspräsident will Federica Mogherini, die Außenbeauftragte der EU, zu einer „echten europäischen Außenministerin“ aufwerten. Ihre erste Aufgabe wird es sein, die Union auf eine einheitliche Syrien-Linie einzuschwören und bei den Friedensgesprächen zu vertreten – momentan geben bekanntlich die USA und Russland den Takt vor.
Verteidigung
Juncker griff gestern die Ideen auf, die Deutschland und Frankreich in einem gemeinsamen Positionspapier formuliert hatten – „Die Presse“ berichtete darüber in ihrer gestrigen Ausgabe –, und forderte die Schaffung eines permanenten europäischen Hauptquartiers zur Koordination ziviler und militärischer Einsätze.
Digitalisierung
Ein Versprechen, das alle Internetnutzer erfreuen sollte, ist die avisierte Versorgung aller europäischen Stadtzentren mit Gratis-WLAN bis 2020. Außerdem will die Kommission den Ausbau des mobilen Internets der fünften Generation (5G) vorantreiben – bis 2025 soll es so weit sein.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2016)