Grazer Amokfahrer: Einweisung - oder doch Strafe?

Große Anteilnahme nach der folgenschweren Amokfahrt durch die Grazer Innenstadt im Juni des Vorjahres.
Große Anteilnahme nach der folgenschweren Amokfahrt durch die Grazer Innenstadt im Juni des Vorjahres.APA/Erwin Scheriau
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Die steirische Landeshauptstadt rüstet für den am Dienstag startenden Amokfahrer-Prozess. Der aufgrund von psychiatrischen Gutachten eingeschlagene Weg „Anstalt statt Strafe“ sorgt im Vorfeld für Debatten.

Kommenden Dienstag (20. September) beginnt im Grazer Landesgericht die für zehn Tage angesetzte „Amokfahrer-Verhandlung“. Um den Andrang von Zuschauern und Journalisten zu bewältigen wird diese per Live-Stream vom Schwurgerichtssaal in einen zweiten Saal übertragen. Im Mittelpunkt steht der 27-jährige Alen R., der am 20. Juni 2015 mit einem grünen SUV durch die Grazer Innenstadt raste. "Die Presse" durchleuchtet die wichtigsten Punkte des Falles.

Wie lauten die konkreten Vorwürfe gegen Alen R.?

Der als Amokfahrer von Graz bezeichnete Mann, der als vierjähriges Kind mit seinen Eltern aus einer umkämpften muslimischen Enklave in Bosnien-Herzegowina nach Österreich gekommen war (die Familie ließ sich in Kalsdorf südlich von Graz nieder), raste am 20. Juni 2015 mit einem Auto durch die Grazer Innenstadt. Eine 53-jährige Frau, ein 28-jähriger Mann und ein vierjähriger Bub starben. 36 Opfer erlitten zum Teil schwerste Verletzungen.

Während der Fahrt legte R. einen Stopp ein, stieg aus dem Fahrzeug und attackierte mit einem Messer ein junges Paar. Beide wurden schwer verletzt. Danach setzte R. die Fahrt fort. Nach 2,8 Kilometern Fahrt blieb er stehen und stellte sich der Polizei.

Die Staatsanwaltschaft Graz wertet dies als dreifache vorsätzliche Tötung und 110-fache versuchte vorsätzliche Tötung – letzteres bezogen auf alle Personen, die überlebten oder sich durch Sprünge oder andere Ausweichbewegungen retten konnten. Eine lange Zeit sicher scheinende Anklage wegen dreifachen Mordes und vielfachen versuchten Mordes unterblieb aber, weil, zwei von drei psychiatrischen Gutachtern den Amokfahrer als unzurechnungsfähig einstufen.

Welche strafrechtlichen Konsequenzen können eintreten?

Der Staatsanwalt musste wegen der vorliegenden Gutachten auf eine Anklage und damit auf das Erwirken einer Bestrafung verzichten. Er hat stattdessen einen Antrag auf (unbefristete) Unterbringung des „Betroffenen“ (wie es korrekt heißt - nicht des Angeklagten) bei Gericht eingebracht.

Ein Umstand, der schon im Vorfeld für hitzige öffentliche Diskussionen sorgt, da Alen R. - sollte der Unterbringungsantrag durchgehen - dann aus der Anstalt zu entlassen ist, wenn er als geheilt gilt. Ob eine Heilung eingetreten ist, wird erstmals nach einem Jahr geprüft.

Allerdings: Die Geschworenen können sich über die beiden Gutachten, die auf Unzurechnungsfähigkeit lauten hinwegsetzen und dem einen, auf Zurechnungsfähigkeit hinauslaufenden Gutachten folgen. In dem Fall würde Alen R. lebenslange Haft (wohl verbunden mit einer Anstaltseinweisung) drohen.

Wie sehen die Motive und Hintergründe der Tat aus?

Von Anfang an waren Fragen nach einem Terrorakt gestellt worden. Die Öffentlichkeit wollte wissen: Gab es etwa einen islamistischen Hintergrund? Die Behörden schlossen dies schon Stunden nach der Amokfahrt reflexartig aus. Dann ermittelte aber doch der Verfassungsschutz. Ergebnis der Prüfung: Es sei kein terroristischer oder religiöser Hintergrund feststellbar. Auch seitens der Verteidigung hatte es geheißen, dass von Radikalisierung bei Alen R. keine Rede sein könne. R. habe als Schüler sogar am katholischen Religionsunterricht teilgenommen.

Dennoch gab und gibt es Spekulationen. Vielleicht stecke doch "mehr" hinter der Amokfahrt, heißt es. R. war auf Facebook und Twitter aktiv. Doch er löschte offenbar vor der Fahrt alle Texte. Nur einen Eintrag (Facebook) hinterließ er: ein Video zum Rap-Song "Beat it". Und einen rätselhaften Kommentar, der da lautete: "Hurensöhne, not in my name".

Im März dieses Jahres ließ der Hinweis eines Grazer Richters während eines Terrorprozesses aufhorchen. Vor Gericht stand ein gewisser Fikret B. (49). Dieser stammt so wie Alen R. aus Bosnien. Als die Auswertung des von B. angelegten Facebook-Accounts zur Sprache kam (diese Auswertung hatte die Staatsanwaltschaft New York am Rechtshilfeweg beigesteuert), erwähnte der Richter laut einem Bericht des „Standard“, dass die US-Behörde auf ein möglicherweise brisantes Detail gestoßen sei: Zwei Wochen vor der Grazer Amokfahrt sei im Internet etwas Verdächtiges zu lesen gewesen, nämlich: Es sei „wieder etwas in Vorbereitung, wir werden wieder zuschlagen“.

Nähere Erläuterungen oder Schlussfolgerungen wurden bei dieser Verhandlung allerdings nicht erörtert. Fikret B. wurde (nicht rechtskräftig) zu acht Jahren Haft verurteilt.

Spekulationen gibt es auch deshalb, weil etwa der IS-Terrorist Abu Mohammad al-Adnani, der vor kurzem in Syrien durch einen US-Raketenangriff getötet wurde, Muslime dazu aufgerufen hatte, wahllos Menschen in Europa auf offener Straße zu töten, unter anderem sagte er: „Überfahrt sie mit eurem Auto.“ Dass dieser oder ein ähnlicher Aufruf Alen R. erreicht haben könnte, ist aber durch nichts bewiesen. Zudem liegen ja eben die psychiatrischen Gutachten vor, wonach es die Fahrt eines an "paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie" erkrankten  Mannes war.

Rein nach ihrem äußeren Erscheinungsbild erinnert die Amokfahrt an den Anschlag von Nizza am 14. Juli dieses Jahres. Ein 31-jähriger IS-Anhänger aus Tunesien fuhr mit einem Lkw über die Strandpromenade, wo sich 30.000 Menschen eingefunden hatten - sie wollten ein Feuerwerk sehen. 86 Menschen wurden durch die Lkw-Fahrt getötet, mehr als 300 verletzt.

Unterm Strich bleibt aber im Fall Alen R. die offizielle Ermittlung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, die wohlgemerkt eben keinen terroristischen Hintergrund feststellen konnte.

Welche Dimensionen nimmt der Grazer Prozess an?

Mit 130 geladenen Zeugen und sieben Gutachtern verdient die Verhandlung zweifellos Prädikate wie "außergewöhnlich", oder gar "extrem".

Als prominentester Zeuge wird der Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl auftreten. Er war auf seiner Vespa unterwegs und sah, wie der Mann im grünen SUV auf ein auf dem Gehsteig befindliches Paar zuraste. Nagel sagte später vor Journalisten: "Ich glaube, der Mann muss sofort tot gewesen sein. Im nächsten Moment gab der Fahrer Gas und fuhr direkt auf mich zu. Ich hab ihm direkt in die Augen geschaut. Er hat uns regelrecht anvisiert. Ich konnte gerade noch aus seiner Bahn fahren." Später äußerte auch Nagl öffentlich Unverständnis darüber, dass dem Amokfahrer nun (laut Antrag der Staatsanwaltschaft) eine Bestrafung erspart bleiben solle. 

Was die Quantität betrifft, ist der "Amok-Prozess" aber nicht der größte, den die steirische Landeshauptstadt je hatte. Im Oktober 2014 stand - übrigens auch unter der Leitung von Richter Andreas Rom, also jenes Richters, der nun im Fall Alen R. den Vorsitz hat - ein suspendierter Referatsleiter des Grazer Magistrats wegen Korruption im Zusammenhang mit der Erteilung von Gewerbescheinen vor Gericht. Und mit dem Mann viele andere - Leute, die Schmiergelder bezahlt hatten.

Für diesen Prozess wurde vom Gericht eigens die Halle 4 der Grazer Messe angemietet. Vier Sicherheitsschleusen wurden errichtet. Nicht weniger als 98 Personen waren angeklagt. Damit der Richter überhaupt wusste, wen er vor sich hatte, mussten die Beschuldigten Namensschilder tragen.

APA

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