Merkel droht der Liebesentzug

Angela Merkel bekommt für ihre Flüchtlingspolitik derzeit wenig Applaus in der eigenen Partei.
Angela Merkel bekommt für ihre Flüchtlingspolitik derzeit wenig Applaus in der eigenen Partei.(c) imago/Christian Mang
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Wenn am Sonntag auch die Berlin-Wahl schlecht für die Union ausgeht, könnte in der Partei ein offener Aufstand gegen Kanzlerin Angela Merkel ausbrechen. Im Moment sieht es ganz danach aus.

So oft bekommen die Deutschen ihre Kanzlerin dann doch nicht live zu sehen. Als Angela Merkel am Mittwoch dieser Woche eine Bühne in Steglitz-Zehlendorf, dem bürgerlichen Südwesten Berlins, betritt, greift das Publikum fast geschlossen zum Handy. Man will einen Foto- oder Videobeweis haben, sollte ihn jemand einfordern. Und der Buschauffeur, der gerade an der Kreuzung neben der Bühne halten muss, schaut so angestrengt durchs Seitenfenster, als könnte er nicht glauben, dass das jetzt wirklich die Kanzlerin ist, die da steht.

Aber sie ist es. Und es gibt gute Gründe für Angela Merkel, am Sonntag hier zu sein. In Berlin wird das Abgeordnetenhaus neu gewählt, und wenn die Prognosen stimmen, dann sieht es für Merkels Partei nicht so gut aus. Die CDU droht unter 20 Prozent zu fallen und womöglich sogar auf Platz drei zurück. Schon wieder. Dieses Mal allerdings nicht hinter die AfD wie vor zwei Wochen in Mecklenburg-Vorpommern. Sondern hinter die Grünen. Wobei die Rechtspopulisten wohl auch im traditionell linksliberalen Berlin 15 Prozent holen und jedenfalls ins zehnte Landesparlament einziehen werden.

Es geht am Sonntag aber nicht nur um die Berliner Union und ihren ziemlich blassen Spitzenkandidaten, Frank Henkel, sondern auch um die berufliche Zukunft von Angela Merkel. Die Kanzlerin scheint entschlossen, bei der Bundestagswahl in einem Jahr erneut zu kandidieren. Aber in ihrer Partei wachsen die Zweifel, ob das wirklich eine gute Idee ist. Noch gibt es, aus Rücksicht auf den Kollegen Henkel, keinen Aufstand gegen die Chefin, aber am Montag könnte sich das ändern. Die Medien spielen bereits den Merkel-Blues: Der Herbst ihrer Macht habe begonnen. Ist es wirklich schon so weit?

Glaubt man dem bayrischen Teil der Union, dann ja. CSU-Chef Horst Seehofer wirft Merkel vor, die AfD mit ihrer liberalen Flüchtlingspolitik groß gemacht zu haben. Er verlangt jetzt einen Rechtsruck der Union und hat eine Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr zur Bedingung erklärt. Sein Fokus liegt dabei auf der bayrischen Landtagswahl 2018, bei der die CSU ihre absolute Mehrheit verteidigen will.

Doch Merkel denkt nicht daran, die Rufe aus dem Landessüden zu erhören. In Zeiten, in denen Politiker dafür kritisiert werden, dass sie ihre Meinung ändern, bleibt sie bei ihrer. Ihre Anhänger nennen das Standhaftigkeit, ihre Kritiker Starrköpfigkeit. Auf der Bühne in Steglitz-Zehlendorf sagt sie: Die Zahl der Flüchtlinge sei deutlich reduziert worden, nämlich durch Maßnahmen wie das Türkei-Abkommen oder Grenzkontrollen. Was sich auch mit den Fakten deckt: Das Bundesamt für Migration rechnet heuer mit 300.000 Flüchtlingen. Im Vorjahr war es eine Million.

Aber in der Bevölkerung scheinen diese Informationen noch nicht angekommen zu sein. Womöglich ist es dafür auch schon zu spät. In den Umfragen fällt die CDU immer weiter zurück, zuletzt (bei Forsa) auf 32 Prozent. Bei der Wahl 2013 hatte Merkel noch 41,5 Prozent geholt. Die SPD wittert plötzlich ihre Chance und distanziert sich von der gemeinsamen Asylpolitik. Und im Streit mit München könnte es demnächst zur Eskalation kommen. Seehofer droht Merkel mit einem eigenen Spitzenkandidaten bei der Bundestagswahl 2017, unter Umständen sogar mit Horst Seehofer, und hat die Kanzlerin noch nicht zum CSU-Parteitag am 4. und 5. November eingeladen.

Lösung über die EU-Bande? In Parteikreisen heißt es, Merkel wolle den Streit noch vor diesem Termin beilegen. Die Frage ist nur: wie? Wird sie am Ende doch einlenken? Finanzminister Wolfgang Schäuble zog im ZDF-Interview am Donnerstag eine Lösung über die EU-Bande in Betracht: Wenn es gelinge, eine Million Menschen in Europa zu verteilen, wäre 200.000 ein nicht unangemessener Anteil für Deutschland. „Eher ein bisschen zu hoch.“ Anders gesagt: So könnte Seehofer seine Obergrenze bekommen (die dann vermutlich Kontingent hieße) und Merkel ihr Gesicht wahren. Allerdings: Beim EU-Gipfel am Freitag in Bratislava ist man hier keinen Schritt weitergekommen.

Im Moment sieht es also nicht danach aus, als könnte Angela Merkel den freien Fall der Union stoppen. In Steglitz-Zehlendorf steht am Mittwoch ein junger Syrer im Publikum. In den Händen hält er ein Schild: „I love Merkel“ steht darauf geschrieben. Die Deutschen hingegen sind gerade dabei, sich von ihrer Kanzlerin zu entlieben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2016)

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