Orbán setzt auf Roma statt Migranten

Hungarian Prime Minister Victor Orban arrives for a family photo during the European Union summit in Bratislava
Hungarian Prime Minister Victor Orban arrives for a family photo during the European Union summit in Bratislava(c) REUTERS (YVES HERMAN)
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Die Regierung in Budapest will die demografischen Probleme durch die Integration von Roma und Sinti lösen. Die Situation der Minderheit hat sich verbessert, aber nur geringfügig.

Budapest. Im Jahr 2011 setzte Ungarn eine Strategie zur Integration der Roma auch auf europäischer Ebene durch. Es war einer der wenigen Augenblicke, in denen alle einverstanden schienen, dass das eine gute Sache war aus dem Land des kontroversen Ministerpräsidenten Viktor Orbán. Er selbst hatte die Idee angestoßen.

Sein Minister für Humanressourcen – zugleich sein Seelsorger – Zoltán Balog wird nicht müde zu betonen, wie schicksalsentscheidend die Sache für Ungarn ist: weniger gesellschaftliche Spannungen, zwei bis drei Prozent mehr Wirtschaftsleistung, weniger demografischen Probleme, unter denen der Arbeitsmarkt leidet. All dies könne eine erfolgreiche Roma-Integration leisten, und das sei „besser als Millionen Migranten ins Land zu holen und diese zu integrieren“, so Balog.

In seinem Büro in der Budapester Akadémia-Straße breitet er ein A3-Blatt mit farbcodierten Statistiken aus. In den ersten Jahren, so erklärt er, konnte man natürlich noch keine sichtbaren Ergebnisse erwarten. Und erst seit Kurzem sei man in der Lage, statistisch zwischen Roma und Nichtroma zu unterscheiden. Jetzt aber, so sagt er, zeichnet sich ein klareres Bild ab.

„Selbstkritisch“ will er sein und spricht von einer „gemischten Bilanz“. Am besten gefällt ihm von den 22 aufgelisteten Indikatoren die Arbeitslosenrate: 28,2 Prozent waren es im Jahr 2015 bei den Roma. 2013 waren es, seinen Daten zufolge, aber noch 39,5 Prozent. Eine deutliche Verbesserung. Es sei denn, man sieht es so wie ein neuer Expertenbericht für den Europarat. Da ist von „systemischer Diskriminierung“ die Rede, und es wird insbesondere die Arbeitslosenrate von „25 bis 30 Prozent“ moniert.

Marginalisierung

Scheitert Orbáns Roma-Politik oder führt sie zu Fortschritten? Die Indikatoren sind insgesamt nicht völlig entmutigend. Sie zeichnen aber auch ein erschütterndes Gesamtbild nicht nur der Nöte der Roma, sondern der gesamten ungarischen Gesellschaft.

So sind 83,7 Prozent der Roma in Gefahr, gesellschaftlich und wirtschaftlich marginalisiert zu werden oder zu bleiben. Eine Zahl, die das Ausmaß der Tragödie zeigt, auch wenn es eine Verbesserung darstellt im Vergleich zum Vorjahr – da lag dieser Wert bei 90 Prozent. Auch rund 27 Prozent der Nichtroma leben demzufolge unter schlechten Bedingungen. (2014 waren es 30 Prozent.) Noch erschreckender: 36 Prozent aller Minderjährigen unter 18 Jahren leben unter wirtschaftlich extrem marginalisierenden Umständen, also nicht nur Roma.

Zwei Dinge relativieren den Eindruck, es habe doch Fortschritt gegeben. Viele der Indikatoren weisen zwar im Vergleich zu 2013 eine spürbare Verbesserung aus. Aber nicht (oder kaum) im Vergleich zu 2009. Das bedeutet, dass die Folgen der Wirtschaftskrise 2008/2009, die die von staatlichen Leistungen abhängigen Ärmsten etwas zeitverzögert am härtesten traf, erst jetzt allmählich überwunden werden.

Zweitens ist ein Teil der Verbesserung Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu verdanken, die nicht unbedingt nachhaltig sind. Die Zahl solcher Arbeitsverhältnisse wuchs von 55.000 im Jahr 2010 (als die jetzige Regierungspartei Fidesz an die Macht kam) auf 211.000 im Jahr 2015 – eine Vervierfachung. Die Statistik weist allerdings auch aus, dass nur 40.000 Roma solche schlechter bezahlten staatlichen Jobs haben. Diese Stellen sollen die Betroffenen durch Fortbildung auch leichter vermittelbar machen, aber nur bei einem Bruchteil – manche Experten nennen Zahlen um die zehn Prozent – gelingt im Anschluss der Übergang zu einer normalen Arbeit. Immerhin: Besser als nichts.

Eine kleine Roma-Elite

Ohne verbesserte Bildung wird es kaum Fortschritt geben für die Roma, und hier sind die Daten und deren Interpretation besonders gegensätzlich. Einerseits hat sich die Zahl der Roma-Studenten in den vergangenen zwei Jahren verdoppelt, es sind aber dennoch nur 1,7 Prozent des Jahres 2015. Selbst der Europarat-Report lobt diese Erfolge und die Herausbildung einer „kleinen gebildeten Roma-Elite, die auch fähig ist, Sorgen und Probleme der Roma zu artikulieren“.

Gleichzeitig steigt die Zahl der Schulabbrecher leicht (59,9 Prozent 2015, nach 57 Prozent 2014 – aber 2013 waren es 64,2 Prozent). In diesem Zusammenhang mahnt der Europarat-Bericht eine Abkehr von „wohlmeinender Segregation“ an – gemeint sind Klassen und Schulen, in denen nur Roma-Kinder sind, entweder weil in den entsprechenden Siedlungen nur Roma wohnen oder um sie „besonders fördern zu können“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2016)

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