Analyse. Nach dem Angriff auf einen UN-Hilfskonvoi droht die Lage in Syrien weiter zu eskalieren. US-Außenminister Kerry will die Waffenruhe retten. Doch daneben tun sich neue Fronten auf.
John Kerry versuchte am Mittwoch weiterhin Optimismus zu demonstrieren: Er gehe nach wie vor davon aus, dass es „einen Ausweg aus dem Blutvergießen in Syrien“ gebe, sagte der US-Außenminister vor dem UN-Sicherheitsrat in New York. Um die Waffenruhe zu retten, müsse aber ein Flugverbot in Kraft treten. Dass diese Forderung auch umgesetzt wird, galt aber als wenig wahrscheinlich. Denn das syrische Regime und seine russischen Verbündeten werden sich darauf kaum einlassen.
Der jüngste Angriff auf den UN-Hilfsgütertransport nahe Aleppo hat die von Russland und den USA ausgehandelte Waffenruhe endgültig obsolet gemacht. Die UNO kündigte an, den Vorfall, bei dem 21 Personen getötet und zahlreiche Lkw mit Hilfsgütern zerstört wurden, zu untersuchen. Washington bekräftigte am Mittwoch den Vorwurf, dass Russland für einen Luftschlag gegen den Konvoi verantwortlich sein. Russland weist das aber zurück und erklärte, es habe eine US-Drohne zum Zeitpunkt des Angriffs in der Gegend geortet. Kerry und Lawrow lieferten sich in New York einen Schlagabtausch. Kerry warf seinem russischen Amtskollegen vor, in einem Paralleluniversum zu leben. Beide wollten mit ihren Außenministerkollegen bis zum Wochenende am Rande der UN-Vollversammlung die Möglichkeit für eine weitere Waffenruhe in Syrien zu sondieren.
Mehr als 13 Stunden lang haben die beiden Großmächte vor mehr als einer Woche in Genf gebraucht, um sich auf die Modalitäten für eine Feuerpause zu einigen, die nach nur sieben Tagen kollabiert ist. Der kleine Hoffnungsschimmer hat sich schon voriges Wochenende rasch wieder in Luft aufgelöst. Neben den bisherigen Auseinanderersetzungen zwischen Regime, Opposition und dem sogenannten Islamischen Staat (IS), sind neue, bewaffnete Konflikte bereits programmiert. Sie lassen daran zweifeln, wie CIA-Direktor John Brennan kürzlich in einem Zeitungsinterview sagte, „ob Syrien je wieder zu einem Ganzen zusammengefügt werden könnte. Es gab so viel Blutvergießen und Zerstörung.“
Türkische Kooperation mit Rebellen
Erst Anfang dieser Woche hatte der türkische Präsident Tayyip Erdoğan bekannt gegeben, er wolle in Syrien eine 5000 Quadratkilometer große Sicherheitszone einrichten. Die erst letzten Monat vom IS gesäuberten Gebiete sind für ihn nicht genug. Im Rahmen der Operation „Euphrat Schild“ hatte die türkische Armee in Kooperation mit den sogenannten „moderaten“ Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA), den IS aus den Grenzregionen vertrieben. Nun will Erdoğan noch tiefer nach Syrien vorstoßen.
Damit sind bewaffnete Auseinandersetzungen mit den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) unausweichlich. Die SDF sind ein ethnisch übergreifendes Militärbündnis, in dem die Kurdenmiliz YPG, neben Arabern, Assyrern und Turkmenen, den größten Teil der Kämpfer stellt. Mit US-Luftunterstützung haben die SDF den IS aus der jetzt von der Türkei beanspruchten Region vertrieben und werden sie nicht so leicht aufgeben.
Für die FSA ist die türkische Sicherheitszone eine perfekte Gelegenheit mit der verhassten Kurdenmilz YPG aufzuräumen. Für die FSA sind sie „Feinde der syrischen Revolution“, „gottlose Kommunisten und Gegner des Islam.“ Die Kooperation der FSA kommt der Türkei gelegen. Denn Ankara will mit dem „Euphrat Schild“ den IS bekämpfen, aber gleichzeitig auch die Kurden, die als „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ gelten. Die Konfrontation mit dem SDF könnte sich zu einem regelrechten Krieg ausweiten.
Syriens Regime wiederum hofft, mit Hilfe der russischen Luftwaffe weitere Geländegewinne erzielen zu können. Sollte die syrische Armee gegenüber den Rebellen und durch den Niedergang des IS weiter Oberwasser bekommen, könnten auch die SDF zum Angriffsziel werden. In Hasakah war es im August zum wiederholten Male zu Scharmützeln mit der Kurdenmiliz YPG und anderen Einheiten der SDF gekommen. Kerry hatte in Genf gefordert, dass sich Gruppen innerhalb der Opposition von radikalen Islamisten distanzieren müssten. Bisher hat sein Aufruf noch keine Wirkung gezeigt. Aber das könnte sich ändern, sobald die Nusrafront von der russischen und amerikanischen Luftwaffe bombardiert wird.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.07.2016)