Phallische Frau mit Pistole

In ihrem Roman „Yseut.“ erzählt Marlene Streeruwitz ein Frauenleben nach – weder chronologisch noch annähernd vollständig. Inszeniert ist dieses Abenteuer als unterhaltsames, leicht groteskes, zuweilen komisches Kammerstück.

Wer literarisch gebildet ist, hat das Rätsel gelöst, bevor es der Roman selbst auflöst:Yseut, der Name der weiblichen Hauptfigur in Marlene Streeruwitz' neuem Roman, ist die altenglische Form für Isolde. Das ist wohl kein Zufall, der Name erinnert an die berühmte tragische Liebesheldin aus dem mittelalterlichen Versepos, die ihrem geliebten Tristan am Ende treu in den Tod folgt. Auch das Leben von Streeruwitz' moderner Yseut steht ganz im Zeichen der Liebe. Und wie im mittelalterlichen Epos allerlei âventiure geschildert werden, so wählt auch Streeruwitz für ihre Erzählung als Genre den Abenteuerroman, jene literarische Form, in der vornehmlich männliche Protagonisten in fernen, gefährlichen Ländern ihr Leben riskieren, meist um jemanden zu retten. Bei Streeruwitz ist der Held natürlich eine Heldin, das Land, in das sie aufbricht, ist zwar nur Italien, doch das entpuppt sich als durchaus gefährlich, und retten soll die Heldin sich selbst, weil sie zu lang die Rettung in der Hinwendung zu den anderen (den Männern) gesucht und sich dabei immer wieder verloren hat. Wie das eben so gehen kann im Leben einer Frau.

Auf rund 400 Seiten erzählt „Yseut.“ fast ein ganzes Frauenleben nach. Wie bei Streeruwitz zu erwarten, tut der Roman das natürlich weder chronologisch noch annähernd vollständig. Er tut es wie nebenbei, mit Mut zur Lücke und ohne den Anspruch auf allzu große Kohärenz oder Eindeutigkeit in der Aussage. Gegliedert ist der Roman in 37 Folgen, die in Rückblenden einerseits Yseuts Vergangenheit erzählen und andererseits ihr gegenwärtiges Urlaubsabenteuer in Italien schildern, zu dem sie aufbricht, um gedankliche Klarheit darüber zu gewinnen, wie es weitergehen soll – mit sich und den Männern.

Der aktuelle Kandidat heißt Alfred, er hat ihr einen „Antrag“ gemacht, wie es heißt, und zwar in Form einer Tube Gleitcreme, die er ihr in die Jackentasche steckt mit dem verbalen Beipackzettel: „Das ist es, was ich möchte.“ Nun muss sich Yseut also überlegen, ob sie sich noch einmal auf ein Liebesabenteuer einlässt oder nicht. Denn eigentlich glaubte Yseut sich vom heftigen Begehren und der unbändigen Sehnsucht, von einem Mann geliebt zu werden, in ihrem Alter längst geheilt. Vor Alfred gab es allerhand Männer in Yseuts Leben: naiv vergötterte vermeintliche Ritter auf weißen Gäulen, die ganz große, aber letztlich unglückliche Liebe, der man sich bedingungslos hingab, unbedeutendere Affären, die mehrere kleine Risse im Herzgewebe hinterließen, und auch einen Versuch mit einer Frau „als Mann“, die später Yseuts beste Freundin wird. Alle diese Lieben haben ihr Leben bestimmt, ihnen ist sie über den Atlantik nach Kalifornien gefolgt oder nach Frankfurt am Main, hat sich nach einer Trennung oder wegen eines Umzugs beruflich neu erfunden, wurde durch diese Beziehungen erst zu der, die sie war.

Yseut ist damit zunächst als Prototyp jener Generation angelegt, der auch Marlene Streeruwitz, Jahrgang 1950, angehört und der dieses Leben ganz für den anderen noch anerzogen wurde, die noch gelernt hat, das Glück des Mannes als das ihre zu empfinden und ganz in ihm aufzugehen, die ihre Sexualität erst entdecken musste und für gleiche Rechte kämpfte. Doch wächst Yseut Ysabella Köbrunner – die beiden Y der Vornamen bilden anstelle des weiblichen XX-Chromosomensatzes zweimal das männliche Y-Chromosom ab – auf ihrer Reise nach Italien als nicht mehr junge Heldin über diese Rolle hinaus, zeigt sich geradezu als phallische Frau mit Pistole.

Im Therapiepark für Demente

Dass sie von ihr auch Gebrauch machen muss, liegt daran, dass sich Italien heute bei Streeruwitz als ein ausnehmend gefährliches und kriminelles Land zeigt. Korrupte Carabinieri haben in Yseuts Abenteuer ebenso ihren Auftritt wie ein attraktiver Mafioso, ein steinalter ehemaliger CIA-Agent mit Stimmprothese, illegale Flüchtlinge und eine Gruppe ausländerfeindlicher Halbstarker. Inszeniert ist dieses Abenteuer als unterhaltsames, leicht groteskes, zuweilen komisches Kammerstück mit barocker Kostümparty, einem Therapiepark für Demente namens „Happy Valley“ und mehreren Schießereien. Bei näherer Betrachtung ertappt man sich dabei, dass es mit der Überzeichnung bei Streeruwitz aber gar nicht so weit her ist und erschreckend vieles von dem, was da geschildert wird, tatsächlich geschehen könnte in unserer Welt – etwa, dass ein Quartier, in dem illegale Flüchtlinge Zuflucht gefunden haben, angezündet wird.

Das italienische Abenteuer ist im Buch weniger ein amouröses als vielmehr ein politisches. Aus der Figurenpsychologie heraus notwendig ist die Verquickung des Liebesthemas mit der aktuellen politischen Lage in Europa nicht, sie ist eher dem Interesse der Autorin geschuldet und ihrem bekannten gesellschaftlichen Engagement, das sich derzeit auch im auf ihrer Website nachzulesenden „Wahlkampfroman“ niederschlägt. Die Männer verschwinden jedenfalls zusehends aus Yseuts Gedanken, und am Ende ist es bezeichnenderweise auch gar kein Mann, dem Streeruwitz' Isolde wenn schon nicht in den Tod nachfolgt, so doch beim Sterben beisteht, sondern eine Frau: Lynn, die beste Freundin, „die einzige Person, zu der sie immer kommen hätte können“, ruft Yseut zu sich, weil sie weiß, sie wird sterben.

Erzählt ist „Yseut.“ im typischen Streeruwitz-Tonfall, die Rückblenden folgen einem recht mündlichen Duktus, die Gegenwartspassagen setzen auf Satzstakkato und Ellipsen, womit auch die Sprache einmal mehr die Streeruwitz'sche Verweigerung von Machtstrukturen demonstriert. Die so zugleich evozierte Unmittelbarkeit und Nähe zur Figur bildet ein wichtiges Gegengewicht zur distanzierten Kopflastigkeit dieser Prosa, die vor allem auf die kognitiv-intellektuelle Durchdringung des Themas setzt und weniger auf die emotionale Verführung des Lesers.

Dass „Yseut.“ anstelle einer Autobiografie geschrieben wurde, wie es im Klappentext heißt, kann man als ästhetische Ansage deuten: gegen die modische Tendenz zu Büchern based on a true story und für „echte Fiktion“. Deren theoretisch möglicher ungleich größerer Erkenntnisgewinn gelingt Streeruwitz mit ihrem Roman, der mit einer Fülle an präzisen Beobachtungen, klugen Sentenzen und symbolhaften Verweisen beeindruckt, von denen man beim ersten Lesen den Eindruck nicht loswird, nicht einmal die Hälfte entschlüsselt zu haben.

„Yseut.“ spürt auf sehr kluge Weise dem ewigen menschlichen Verlangen nach, geliebtzu werden, wahrhaftig vom anderen erkannt zu werden, und zeigt, dass es letztlich – vielleicht gerade für eine Frau – darum geht, sich selbst zu lieben, und zwar nicht als „Frau von“, „Geliebte des“ oder als Mutter, Tochter, Enkelin, sondern um ihretwillen, als Frau – und Punkt. Wie der Titel „Yseut.“ impliziert. ■

Marlene Streeruwitz

Yseut.

Abenteuerroman in 37 Folgen. 416 S., geb., € 25,70 (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2016)

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