Alkolenker ertappt: Doppelt hält besser

(c) Vinzenz Schüller
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Der Verfassungsgerichtshof geht beim Verbot des zweifachen Verfahrens in ein und derselben Sache auf Distanz zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – und sieht die Grenzen weniger eng.

WIEN. „Niemand darf wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut vor Gericht gestellt oder bestraft werden.“ So umschreibt Artikel 4 eines Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention (nämlich des 7.) das, was – etwas verkürzt – als Verbot der Doppelbestrafung bezeichnet wird.

Über die genaue Reichweite dieses Grundrechts ist nun eine kuriose Divergenz zwischen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg und jener des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) entstanden: Der EGMR hat seine Spruchpraxis durch die Große Kammer im Interesse der Rechtssicherheit verschärft, der VfGH bleibt hingegen – ebenfalls ausdrücklich im Sinn der Rechtssicherheit – bei seiner weniger strikten Judikatur.

Während der EGMR nun verbietet, zwei Verfahren zu führen, die auf identischen oder zumindest „im Wesentlichen denselben“ Tatsachen beruhen, betont der VfGH, dass ein und dasselbe Verhalten verschiedene strafbare Elemente enthalten kann, die sehr wohl zweierlei Verfahren rechtfertigen können. Im Ergebnis verteidigt der VfGH damit – frei nach dem Motto „doppelt hält besser“ – das Nebeneinander von gerichtlichen und polizeilichen Verfahren nach Unfällen mit Alkolenkern (sowie jenes von Strafrecht und Disziplinarrecht bei Beamten, die sich etwas zuschulden kommen lassen haben).

Zum Vergleich die beiden Fälle, in denen jeweils ein Alkoholisierter die Hauptrolle spielte: der eine in Russland, wo Sergej Zolotukhin auf einer Polizeistation randaliert hatte. Der Mann wurde wegen Beleidigung von Polizisten sowohl mit einer Verwaltungsstrafe als auch nach dem Strafgesetzbuch wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt verurteilt. Der EGMR sah damit Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls verletzt.

Der österreichische Fall betraf einen alkoholisierten Autofahrer, der einen Fußgänger am Knöchel verletzt hatte. Der Mann wurde zuerst in einem gerichtlichen Strafverfahren wegen Imstichlassens eines Verletzten und wegen Unterdrückung eines Beweismittels zu einer Freiheitsstrafe verurteilt; ein Strafantrag wegen fahrlässiger Körperverletzung wurde von der Staatsanwaltschaft (gem. §34/2 Z.1 StPO) zurückgezogen, weil seine Verfolgung ohne wesentlichen Einfluss auf die Strafe gewesen wäre. Dann verhängte die Bezirkshauptmannschaft über den Fahrer eine Geldstrafe wegen Alkohols am Steuer und wegen Fahrerflucht. Während der EGMR nach seiner neuesten Rechtsprechung darin einen Verstoß gegen das 7. Zusatzprotokoll erblicken könnte, weil beide Verfahren um denselben Vorfall kreisten, sieht der VfGH den Alkolenker nicht in seinen Grundrechten verletzt: Die Straftatbestände, derentwegen er verfolgt und verurteilt wurde, hätten sich „in ihren wesentlichen Elementen unterschieden“, sodass „keine unzulässige Doppelverfolgung wegen derselben strafbaren Handlung vorliegt“ (B 559/08).

Beide Höchstgerichte berufen sich auf die Rechtssicherheit, und das geht so: Der EGMR will seine bisher schwankende Judikatur auf Linie bringen und verbietet jetzt (wieder) generell zwei Verfahren wegen ein und derselben Handlung (so auch schon 1995 im Fall Gradinger gegen Österreich), der VfGH hingegen bleibt bei seiner – ohnehin unter dem Eindruck einer einschlägigen EGMR-Entscheidung (Franz Fischer gegen Österreich aus 2001) entwickelten und seither beibehaltenen – Rechtsprechung: Eine Handlung kann unter verschiedenen Aspekten mehrfach verfolgt werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.09.2009)

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