Der Physiker ohne Worte

„Physikalische Gesetze sollten mathematische Schönheit besitzen.“ Paul Dirac (1902–1984).
„Physikalische Gesetze sollten mathematische Schönheit besitzen.“ Paul Dirac (1902–1984).Archiv
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Alle Gründerväter der Quantentheorie waren Querköpfe, doch Paul Dirac war der verschrobenste. Eine informative Biografie fragt auch: War er Autist?

Die theoretische Physik erlebt derzeit einen langsamen, aber offenbar unaufhaltbaren Rückzug: Eines ihrer stolzesten Gebäude hält dem Test nicht stand, dem man sich in der Naturwissenschaft nicht entziehen kann, dem Vergleich mit dem Experiment. Es ist die Supersymmetrie, die verspricht, drei der Grundkräfte des Universums (Elektromagnetismus, starke und schwache Kernkraft) zu vereinheitlichen – um einen hohen Preis: Zu jedem Elementarteilchen, das man kennt, postuliert sie einen Superpartner, ein Teilchen, das man erst finden müsse.

So gigantisch die Energien in den Teilchenbeschleunigern sind, bisher hat man keines dieser Teilchen gefunden; immer mehr theoretische Physiker beginnen sich damit abzufinden: So schön die Theorie der Supersymmetrie ist, sie scheint die Wirklichkeit nicht zu beschreiben.

Gut, dass Paul Dirac das nicht mehr erleben muss. „Es ist wichtiger, in seinen Gleichungen Schönheit zu haben als Übereinstimmung mit dem Experiment“, so formulierte er einmal im „Scientific American“ sein Credo. Das Wort passt, denn Dirac sprach in diesem Zusammenhang sogar von Gott, den er für einen „höchst genialen Mathematiker“ hielt. Dabei war er eigentlich Atheist: „Unser Freund Dirac hat eine Religion, und ihr Leitsatz lautet: Es gibt keinen Gott, und Dirac ist sein Prophet“, sagte Wolfgang Pauli in gewohnter Schärfe.

Pauli, den Dirac nicht leiden konnte – weil er ihn an seinen tyrannischen Vater erinnerte –, hatte mit ihm etwas gemeinsam: Sie waren die ersten beiden, die das taten, was die Anhänger der Supersymmetrie vier Jahrzehnte später in großem Stil taten. Sie postulierten Teilchen, die keiner je gesehen hatte, allein aus der Theorie: Pauli führte 1930 die Neutrinos ein, um den radioaktiven Zerfall zu erklären; sie wurden erst 1956 nachgewiesen. Dirac präsentierte beim selben Seminar die magnetischen Monopole; sie sind bis heute unbekannt. Im Gegensatz zu den Positronen, den Antiteilchen der Elektronen, die sich aus der 1928 von Dirac aufgestellten Gleichung für Elektronen, einer Erweiterung der Schrödinger-Gleichung (mit Spin und der speziellen Relativitätstheorie gehorchend), ableiten ließen; sie wurden schon 1932 in der kosmischen Strahlung entdeckt. Dass er sie nicht gleich postuliert hatte, erklärte er später so: „Reine Feigheit.“ Nein, lange Erklärungen waren nicht Diracs Sache, vor allem als Junger war er höchst wortkarg. In Interviews beschränkte er sich oft auf die Antworten „ja“ und „nein“; als nach einem Vortrag ein Zuhörer sagte, er verstehe eine Gleichung auf der Tafel nicht, reagierte Dirac gar nicht, als der Moderator ihn doch um Antwort bat, sagte er nur: „Das war keine Frage, das war ein Kommentar.“

Keine Interpretation. Ein Tagebuch über eine Eisenbahnreise führte er nur in Form von Zahlen; er lehnte es ab, die Quantentheorie in Bildern zu beschreiben. „Ich bin nicht an Literatur interessiert, ich gehe nicht ins Theater, und ich höre keine Musik“, sagte er einmal: „Ich beschäftige mich einzig und allein mit Theorien über das Atom.“

So war Dirac unter den Sonderlingen der ersten Quantenphysiker-Generation ein ganz besonders absonderlicher, ein Nerd, wie man heute sagen würde, es ist wohl kein Zufall, dass die Macher der TV-Serie „Big Bang Theory“ ihren ebenfalls nicht sehr eloquenten Sheldon die Dirac-Gleichung neu entdecken ließen. Im Gegensatz zu Planck, Einstein, Bohr, Pauli, Heisenberg und Schrödinger hatte Dirac keinen Sinn für humanistische Bildung und philosophische Spekulation; für ihn bedurfte die Quantentheorie keiner Interpretation, sie war einfach, und sie war schön.

War Dirac ein Autist? Natürlich fragt sich Graham Farmelo das auch in seiner, nun endlich auf Deutsch vorliegenden Biografie. Viel spreche dafür, meint er, und auch Diracs Vater, den er sein Leben lang bitter hasste, habe autistische Züge gehabt. Freilich habe sich der Mangel an Empathie bei Charles Dirac als „Tendenz, sich wie ein Bulldozer in Menschengestalt zu benehmen“, manifestiert, bei seinem Sohn Paul als Zurückgezogenheit. Und als freimütig eingestandener Mangel an Gefühlen: „Ich fürchte, ich kann keine so netten Briefe an dich schreiben – vielleicht weil meine Gefühle so schwach sind und mein Leben sich hauptsächlich um Fakten und nicht um Gefühle dreht“, schrieb er an Margit „Manci“ Wigner, die Schwester eines Kollegen, die beharrlich um ihn warb. Mit Erfolg: Er verliebte sich dann doch in sie, heiratete sie und war ihr bis zu seinem Tod treu, obwohl ihre lebhafte Art ihm rätselhaft blieb. „Er hatte sein Antiteilchen gefunden“, schreibt Farmelo. „Was würdest du tun, wenn ich dich verließe?“, polterte Manci einmal bei einem Streit. Pauls Antwort nach einer halbminütigen Pause: „Ich würde ,Auf Wiedersehen, meine Liebe‘ sagen.“

Dirac ertrug sogar geduldig, dass seine Frau allerorten stolz ein Foto zeigte, auf dem er und Papst Johannes Paul II. einander die Hand gaben: 1961 wurde er in die Päpstliche Akademie gewählt. Zehn Jahre später ließ er beim Treffen der Nobelpreisträger in Lindau die Zuhörer staunen, indem er die Frage „Gibt es einen Gott?“ als eine der fünf wichtigsten Fragen der Physik nannte. Und als ihn 1978 der Maler Michael Noakes, der sein Porträt anfertigte, fragte, ob er in verständlichen Worten erklären könne, woran er arbeite, antwortete er knapp: „Ja: Schöpfung.“

Er meinte die Urknalltheorie, an der er freilich nicht wirklich selbst arbeitete. Ähnlich wie bei Einstein waren seine späten Jahre von vergeblichen Versuchen gezeichnet. Während Einstein an der vereinheitlichten Feldtheorie scheiterte, haderte Dirac mit der Renormierung (mit der man in der Quantenfeldtheorie mathematisch nicht ganz sauber vermeidet, dass unendliche Größen herauskommen): Sie sei ihm zu hässlich, sagte er wieder und wieder. Um sie zu vermeiden, überlegte er, das Elektron nicht als Punktteilchen, sondern als „ein Ding wie ein Faden“ zu beschreiben. So wurde er zum Ahnen einer weiteren Theorie, von der Physiker ob ihrer Eleganz schwärmen: der Stringtheorie. Wie die Supersymmetrie – mit der kombiniert sie zur Superstringtheorie wurde – scheint sie derzeit allmählich an Relevanz zu verlieren.

Diracs unzweifelhaft schöne Formulierung der Quantentheorie freilich wird bleiben – mit der Erinnerung an einen der produktivsten und eigensinnigsten Köpfe der Physik.

Neu ERSCHIENEN

Graham Farmelo: „Der seltsamste Mensch. Das verborgene Leben des Quantengenies Paul Dirac“, übersetzt von Reimara Rössler, Springer, 614 Seiten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.10.2016)

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