Der türkische Oppositionelle Mustafa Balbay über den immer massiveren Druck auf Regierungskritiker, die wahren Ziele der Gülen-Bewegung - und die "Doppelstandards" der EU.
Die Presse: Sie sind CHP-Abgeordneter, waren und sind Journalist und Kolumnist der Zeitung „Cumhuriyet“. Medien stehen in der Türkei massiv unter Druck . . .
Mustafa Balbay: Hier passiert etwas sehr Falsches. In der Putschnacht im Juli sagte die AKP-Regierung, der Putsch sei dank freier Presse verhindert worden. Sie scheint das vergessen zu haben. Ohne freie Presse hätte die Partei große Schwierigkeiten gehabt. In der Türkei werden Journalisten bedrängt, mit Verfahren geplagt, Zeitungen bekommen keine Anzeigen – trotzdem gibt es eine ernsthafte oppositionelle Bewegung.
Im Rahmen des Ergenekon-Verfahrens – einer Gruppierung wurde die Bildung eines Parallelstaates vorgeworfen – sind Journalisten ohne stichhaltige Beweise verurteilt worden. Sie selbst waren fast fünf Jahre im Gefängnis. Der Druck auf die freie Presse begann nicht erst mit dem Putsch.
Ich wurde verurteilt, trotzdem setzte ich täglich meine Schreibarbeit fort. Auch wenn nur wenige regierungskritische Publikationen übrig sind: Die Journalisten widersetzen sich. Es gab in unserer Geschichte viele schwierige Situationen, zum Beispiel war ich nach dem Putsch 1980 lange in U-Haft. Ich glaube, dass wir auch aus diesen finsteren Zeiten herauskommen werden.
Seit dem Putsch kommt es zu Massenverhaftungen und -entlassungen, die Regierung will die Bewegung von Prediger Fethullah Gülen ausmerzen. Auch ihre Partei kritisiert Gülens islamische Bewegung, aber ist das, was passiert, rechtens?
Das ist nicht rechtmäßig. Die AKP schürt mit dem Vorhaben, die Gülen-Bewegung zu zerschlagen, Ängste in der Bevölkerung. Die Partei will die Macht mit niemandem teilen und jegliche Opposition aus dem Weg räumen. Es gibt ein türkisches Sprichwort: Wenn zwei Elefanten kämpfen, dann wird die Wiese zertrampelt. Die Wiese steht für die demokratischen Strukturen.
Liberale, säkulare und linke Beobachter haben schon immer vor der Gülen-Bewegung gewarnt, sie soll ja hinter dem Putsch stehen.
Ich habe Gülen jahrelang beobachtet und über die Bewegung geschrieben. Seit den 1960er-Jahren, als der Kalte Krieg auf dem Höhepunkt war, ist der politische Islam zweigeteilt. Ein Teil wollte mit Wahlen an die Macht, das war die Linie von Necmettin Erbakan (Ex-Premier, Anm.). Die anderen wollten mit der Übernahme der Institutionen an die Macht kommen. Das war der Weg von Fethullah Gülen.
Die Ziele von Gülen sind also seit Jahrzehnten bekannt?
Ja, Gülen hat sich schrittweise in den Staat hineingearbeitet, er hat die AKP bei Wahlen unterstützt. Es ist schwierig, das Außenstehenden zu vermitteln. In der Türkei ist es leider so, dass parallele Strukturen mit den sichtbaren eng verwoben sind – der Erdboden mit der Erdoberfläche, wenn man so will. Die Wehen dieses Systems haben wir in der Vergangenheit oft gespürt.
Es gibt eine Auseinandersetzung zwischen zwei islamischen Fraktionen. Warum stärkt das nicht die säkulare Opposition?
Wir sind die größte Oppositionspartei und stellen ein Viertel der Abgeordneten im Parlament. Das ist nicht wenig. Das Problem ist, dass die Angstmache der AKP funktioniert, die Partei hat den Respekt vor Andersdenkenden verloren. Ich war heute bei der Gedenkfeier für die Opfer des Ankara-Anschlags (IS-Anschlag im Oktober 2015 mit 102 Toten, Anm.). Sogar die Trauerfeier wurde verboten, wir haben Tränengas abbekommen. Nicht einmal den Schmerz dürfen wir öffentlich erleben. Und trotzdem kamen Menschen.
CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu wird vorgeworfen, dass er sich nach dem Putschversuch der AKP quasi untergeordnet hat.
In der Nacht standen gegen die Schließung des Parlaments alle Parteien Seite an Seite. Wir sind aber gegen eine AKP, die Demokratie, Recht und Laizität in Gefahr bringt. In der Türkei muss das parlamentarische System gestärkt werden. Wir müssen unsere Verfassung verbessern, aber bis es soweit ist, muss die jetzige respektiert werden, ansonsten erwartet uns das Chaos.
Die Türkei befindet sich außenpolitisch auf glattem Boden, mit Einsätzen in Syrien und im Irak...
Wenn gesagt wird: „Wir wollen die Gegend von den Terroristen befreien“, dann kann ich nicht Nein sagen. Aber Syrien ist ein Fass ohne Boden. Wenn du den Boden nicht siehst, dann gehst du doch nicht hinein. Mit der Außenpolitik kann man gut innenpolitische Probleme überdecken. Bei uns gilt aber auch der Spruch von Napoleon: Geografie ist Schicksal. In den letzten 20 Jahren ist der Balkan zerfallen, der Kaukasus, der Irak, Syrien ist ein Durcheinander, und in dieser Region befindet sich die Türkei. Wenn Sie im Feuer sind, können Sie nicht sagen, ich trinke mein Wasser mit Eis.
Wie kann die EU auf die Türkei einwirken?
Die EU wird weder Regierung noch Opposition unterstützen. Sie soll nur eine Sache wollen: Recht und Gerechtigkeit wahren. Wir sind Mitglied in über 200 europäischen Organisationen. Wenn die EU auf Frieden Wert legt, muss sie sich mit den Nachbarn verstehen. Wenn die Türkei zum autoritären, religiös geführten Staat wird, schadet das Europa. Wir sehen da einen Doppelstandard: Europa kann sich nicht den Luxus erlauben, wegen der Flüchtlinge über Probleme hinwegzusehen. Dinge werden unter den Teppich gekehrt, aber der Teppich ist schon so hoch wie die Alpen.
ZUR PERSON
Mustafa Balbay (56) ist Abgeordneter der sozialdemokratischen CHP. Bei seiner Wahl 2011 befand er sich in Haft. Zuvor war er als Journalist für die kemalistische Zeitung „Cumhuriyet“ tätig. 2008 wurde er im Rahmen des Ergenekon-Verfahrens verhaftet, er saß nahezu fünf Jahre in U-Haft. Ihm wurde vorgeworfen, die Regierung stürzen zu wollen. Balbay weist dies zurück.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.10.2016)