Ungarns Behörden legten Ermittlungsbericht vor. Die Gruppe, die 71 Tote zu verantworten haben soll, betrieb ein Schleppernetzwerk nach Österreich und Deutschland.
Budapest. Der Tod von 71 Flüchtlingen in einem Kühllaster im August 2015 erschütterte Europa. Das Unglück trug dazu bei, dass Österreich und Deutschland wenige Tage später die Grenzen öffneten. Die Opfer waren an der ungarisch-serbischen Grenze in den Wagen geladen worden und in der Nähe von Budapest erstickt. Der Lkw fuhr weiter, wurde in Österreich auf der A4 abgestellt und schließlich entdeckt.
Jetzt sind die Ermittlungen in dem Fall abgeschlossen. Die ungarische Polizei präsentierte die Ergebnisse am Mittwoch der internationalen Presse. Der nächste Schritt ist die Anklageerhebung gegen elf Tatverdächtige. Acht sitzen in Ungarn in Untersuchungshaft, gegen drei weitere wird per internationalem Haftbefehl gefahndet.
Atemnot in anderen Lastern
Zoltán Boross von der ungarischen Polizei beschrieb die Bande als hochprofessionelle Organisation, geführt von einem Afghanen, der „illegal ins Land kam, mehrere Sprachen beherrscht und in Ungarn als ,Schutzbedürftiger‘ anerkannt“ wurde. In Wahrheit aber soll er sich an die Arbeit gemacht haben, Menschenschmuggel zu organisieren, „in enger Zusammenarbeit mit anderen Afghanen in Serbien“. Die brachten die Migranten über die Grenze. Die Bande des Hauptverdächtigen bestand aus bulgarischen Staatsbürgern, einer von ihnen besitzt zudem die libanesische Staatsbürgerschaft.
Wie in einem gut organisierten Unternehmen lief der Schlepperbetrieb. Die Ermittler gehen davon aus, dass die Bande von Februar bis August 2015 „täglich 60 bis 80 Migranten“ schmuggelte, vor allem nach Deutschland und Österreich. 25 Transporte konnte die Polizei rekonstruieren, davon zehn nach Deutschland und acht nach Österreich, 1106 geschmuggelte Migranten wurden identifiziert. Viele von ihnen wurden befragt. Sie sagten aus, dass auch sie in den geschlossenen Transportern an Atemnot gelitten hätten. Mehrere seien unterwegs in Ohnmacht gefallen.
Die Migranten zahlten pro Kopf 1200 bis 1500 Euro, insgesamt sollten so etwa 1,7 Mio. Euro zusammen gekommen sein, sagte Boross. Ein großer Teil der Einnahmen sei vom Haupttäter nach Afghanistan überwiesen worden. Robert Crepinko, Leiter des Zentrums gegen Menschenschmuggel bei Europol, sagte im Gespräch mit der „Presse“, dass man solche massiven Geldbewegungen zurück in die Ursprungsländer der Schmugglerbanden sehr häufig sehe.
Wie rücksichtslos die Schlepper agierten, zeigt sich an einem Detail: Am Tag nachdem die 71 Migranten im Kühlwagen erstickt waren, steckten sie weitere 64 Personen in einen ähnlichen Laster – obwohl sie zu diesem Zeitpunkt wussten, dass der vorige Transport zum Tod aller Insassen geführt hatte.
Jeder Transport wurde von mehreren Pkw begleitet, sogenannten Scouts, die vor und hinter dem Laster die Straße beobachteten und nach Polizei Ausschau hielten. In diesem speziellen Fall waren es drei Pkw, die den Kühllaster eskortierten. Die Polizei beschlagnahmte insgesamt 15 Fahrzeuge der Bande. Sie kauften meist Gebrauchtwagen, für die Transporter zahlten sie jeweils umgerechnet 6000 bis 10.000 Euro. Im Juni 2015, als die Flüchtlingskrise größere Ausmaße annahm, investierte die Bande in größere Transporter.
Ermittlungen in elf Ländern
Auch weiterhin bleibt Menschenschmuggel ein großes Problem, allein in diesem Jahr seien in Europa 12.000 Tatverdächtige bekannt geworden, sagte Crepinko. Im vergangenen Jahr hätten Banden mit Menschenschmuggel „fünf bis sechs Milliarden Euro“ verdient.
In Ungarn laufen derzeit Ermittlungen gegen zwölf herrausragende Organisationen, sagte Boross, eine davon habe „in den letzten Tagen 500 Menschen über die Grenze gebracht“.
Beide Männer betonten, dass für den Ermittlungserfolg die internationale Behördenkooperation von insgesamt elf Ländern entscheidend gewesen sei, insbesondere die Kooperation mit den Kollegen in Österreich.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.10.2016)