Türkei: In der Geiselhaft eines Gespenstes

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Die Suche nach den Putsch-Verantwortlichen artet Kritikern zufolge aus. Dass aber der Prediger Fethullah Gülen hinter dem gescheiterten Coup steckt, daran zweifelt kaum jemand.

Von der viel zitierten Spaltung der türkischen Gesellschaft ist auf dem zentralen Atatürk-Boulevard in Ankara vorerst nur eines zu sehen: Manche Frauen tragen Kopftuch, manche nicht. Durch die Geschäfte schieben sich die Menschenmengen, Schüler in Uniformen, Studenten, Geschäftsleute und Bauarbeiter bevölkern die Tee- und Imbisshäuser in den belebten Seitengassen des Boulevards. „Die Türkei ist sehr polarisiert: ethnisch, politisch, religiös“, sagt Cem Gurbetoğlu und weist aus dem Fenster hinaus auf die lebendigen Straßen Ankaras, „aber es ist trotzdem ruhig.“

Für den Alltag gilt das wohl, auch wenn der Ausnahmezustand nach dem gescheiterten Putsch Mitte Juli erst kürzlich wieder verlängert wurde. Die relative Normalität auf den Straßen ist aber nichts, was den Redakteur Gurbetoğlu langfristig beruhigt. Erst vor einigen Tagen ist der TV-Sender Hayatın Sesi zugesperrt worden, ein Sender, für den er ebenfalls Beiträge geliefert hat.

Gurbetoğlu sitzt im Hauptstadtbüro der linken Tageszeitung „Evrensel“, die mit „Hayatın Sesi“ personell verbunden ist, und versucht sich im Pragmatischen. Schon mehrmals ist „Evrensel“ von den Behörden geschlossen worden, und zwar noch vor der AKP-Regierung, aber die Zeitung ist immer wieder zurückgekehrt. „Wir haben da Erfahrung“, sagt Gurbetoğlu. Möglich, dass die nächste Schließung bevorsteht, zumal derzeit mehrere Verfahren gegen die regierungskritische Zeitung laufen.

„In der Türkei stand der kritische Journalismus immer schon unter Druck, aber dass jetzt ganze Medienhäuser geschlossen werden, ist neu“, meint Gurbetoğlu. Zuvor habe die konservative Regierung unliebsame Kritiker aus den Mainstreammedien aus dem Weg geräumt, nun seien die kleineren Publikationen an der Reihe. In den vergangenen Tagen sind 23 Radio- und TV-Stationen vom Äther genommen worden oder stehen kurz davor, gegen sie wird unter anderem wegen „Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen“ ermittelt. Bis auf das kemalistisch orientierte „Halk TV“ gibt es keinen unabhängigen, regierungskritischen Sender mehr, sagt Gurbetoğlu.

Die prekäre Lage der Medien in der Türkei wird international mit Sorge beobachtet. Im Land selbst sind die betroffenen Medien näher zueinandergerückt und zeigen Entschlossenheit. Als im August die prokurdische Zeitung „Özgür Gündem“ wegen PKK-Propaganda nicht mehr erscheinen durfte, hat die Redaktion eine neue Publikation aus der Taufe gehoben („Özgürlükçü Demokrasi“) und verbreitet sie per Abo-System, weil die Zeitung nicht in das offizielle Vertriebssystem aufgenommen wird.

Tabula rasa mit Opposition

Auf dem Atatürk-Boulevard preist ein Straßenhändler Becher mit warmem Mais an, hinter ihm, nur ein paar Minuten Fußweg, befindet sich das Parlament, das in der Putschnacht bombardiert wurde. Die Nacht mit fast 300 Toten hat die Türkei im Mark erschüttert, Säkulare wie Konservative geraten in Rage, wenn sie die Bilder des teilzerstörten Parlaments sehen.

Seither aber hält die Suche nach den Verantwortlichen – laut Regierung die islamische Bewegung des Predigers Fethullah Gülen – die Türkei gewissermaßen in Geiselhaft. Mit dem Vorwand, das Netzwerk zu zerstören, macht die Regierung Tabula rasa mit der Opposition, lautet die Kritik. Der in den USA lebende Gülen ist in der Türkei ein allgegenwärtiges Gespenst. Neben dem Maisstand erzählt eine ältere Frau, dass sie vor Jahren von ihrer Schwester einen Dollarschein als Glücksbringer erhalten habe, und den habe sie nun zerrissen und weggeworfen: „Wenn sie mich damit erwischen, glauben sie, ich hätte was mit Gülen zu tun.“

Bis auf die Verschwörungstheoretiker hat hier kaum jemand Zweifel, dass Gülen hinter dem Putsch steckt. Säkulare und liberale Kräfte haben schon immer vor dem klandestinen Netzwerk des Predigers gewarnt, vor allem sehen sie sich jetzt bestätigt. Man könnte es auch so sagen: Wenn es gegen Gülen geht, ist das Land einig. Allerdings nur ganz kurz.

„Es ist so eine Atmosphäre geschaffen worden: Wenn es um Gülen geht, darf außerhalb des rechtlichen Rahmens gehandelt werden“, sagt Bahadır Selim Dilek mit Blick auf die Massenverhaftungen und -entlassungen. Der Journalist und Autor sitzt in einem gut besuchten Café, und immer, wenn er Fethullah Gülen sagt oder den Namen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan nennt, schielen die Tischnachbarn interessiert bis skeptisch herüber. Dilek war unter anderem für die kemalistisch-säkulare „Cumhuriyet“ tätig, aktuell hat er keine Stelle und wird auch wohl keine finden, sagt er.

Viel zu lange verbündet

Das Handeln außerhalb des Rechtsstaates spiele Gülen nur in die Hände, meint Dilek – weil er dadurch zu einem Opfer stilisiert werde: „Und Gülen ist kein Opfer. Er ist eine Gefahr für die Türkei.“ Dass sein Netzwerk überhaupt so erstarken konnte, sei vor allem Erdoğan zuzuschreiben, der in der Vergangenheit alle Türen für seinen ehemaligen Weggefährten geöffnet habe. „Er ist der eigentliche Verantwortliche für unsere Situation“, sagt Dilek. Erdoğan behauptet, er sei von Gülen getäuscht worden. Und politische Beobachter wie Dilek glauben ihm das nicht. Viel zu eng waren die zwei Verbündeten, als dass sie nicht wüssten, wohin der andere wollte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2016)

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