Handel: Der Mythos vom alten Kunden

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Europa wird älter. Supermärkte erfinden raffinierte Ladenkonzepte für die kaufkräftigen, betagten Kunden. Eine neue WU-Studie zeigt, wie sehr die Bemühung an der Nachfrage vorbeigeht.

Wien. Die Österreicher sind in gewisser Hinsicht Pioniere des Lebensmittelhandels. Auch wenn das heute in Vergessenheit geraten sein mag. 2003 eröffnete die Handelskette Adeg in Salzburg ihren ersten 50-plus-Markt. Das Medienecho war groß. Endlich gebe es einen Supermarkt mit rutschfesten Böden, Einkaufswagen mit Sitzgelegenheit, Lupen für das Kleingedruckte und Blutdruckmessgeräten an der Kasse.

Das Senioren-Pilotprojekt hat eine gewisse Berechtigung: Österreich wird älter. Die Zahl der kaufkräftigen, qualitätsbewussten Seniorenhaushalte steigt. 2004 entfielen bereits 27 Prozent der Kaufkraft auf Haushalte mit Bewohnern über 65. Laut Prognosen wird Österreich 2050 gemeinsam mit Deutschland und der Schweiz die älteste Region des ältesten Kontinents bilden. Verständlich, dass Europas Unternehmensberater diesen Trend an die Handelskonzerne weiterleiten.

Leiser Abschied

Doch so laut er auch begrüßt wurde – der Pilot-Supermarkt fand keinen Anklang bei den Älteren. Mit der Übernahme der Adeg-Märkte durch Rewe verschwand das Konzept nach wenigen Jahren in der Mottenkiste. Robert Zniva wunderte die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Der Handels- und Marketingforscher an der WU Wien hörte auf Kongressen oft dieselbe Botschaft: „Die Alten kommen. Den Handel, wie wir ihn kennen, wird es nicht mehr geben.“ Mit gescheiterten Beispielen wie dem Adeg 50 plus im Kopf stand für ihn fest: „Entweder die Forschung hat nicht recht, oder ihre Theorie wird falsch umgesetzt.“

Also machte sich Zniva, der zur Auswirkung des demografischen Wandels im Handel forscht, auf den Weg ins Land der Extreme, nach Amerika. Dort wollte er die seit den Achtzigern gefestigte Lehrmeinung, dass Ältere mehr Wert auf Bequemlichkeit legen und der Einkauf komplett neu gedacht werden müsse, auf die Probe stellen.

In einem Feldversuch stellte er eine Rentnersiedlung in Florida einer nur 100 Kilometer entfernten Universitätsstadt gegenüber. Gleiche Einwohnerzahl, gleiche Handelsketten – nur waren die Bewohner einmal etwa in ihren Sechzigern, einmal in ihren Zwanzigern. Zniva interviewte sie, ging mit ihnen einkaufen und kam zu dem Schluss: Die Jüngeren sind mit ihren Einkaufserlebnissen viel unzufriedener als die Älteren. Zweite Erkenntnis: Von einem Pensionisten-Markt war in der Rentnersiedlung keine Spur. Bloß feine Anpassungen bei den Packungsgrößen oder dem Service an der Kassa waren erkennbar. „In den USA sind diese Seniorenkonzepte nie aufgekommen. Man denkt viel marktwirtschaftlicher. Was funktioniert, wird gemacht“, so der Handelsforscher.

Unzufriedene Europäer?

Da es die europäischen Universitäten und Beratungsfirmen sind, die den Umbruch in den Supermärkten propagieren, wollte Zniva testen, ob die Bequemlichkeit zwar vielleicht nicht in Florida, aber in Wien vermisst wird. Wieder ging er einkaufen, interviewte Junge und Alte und kam zum selben Ergebnis: Die Jüngeren bewerteten das Service im Handel schlechter – und sie waren es, die mehr Bequemlichkeit beim täglichen Einkauf forderten.

Was sagen einem nun all die mit ihren Shoppingtouren glücklichen Pensionisten in Florida und Wien? Robert Zniva nahm sie zum Anlass für eine aktuelle Publikation, die mit der gängigen Lehrmeinung aufräumen will. Sein Fazit: „Die Heterogenität der Menschen nimmt mit dem Alterungsprozess immer mehr zu.“ Das werde in Marketingstudien, die lediglich eine biologische Altersgrenze bei 55 oder 60 Jahren einziehen, oft ausgeblendet.

Der Großteil der Pensionisten habe mehr Ruhe und Lebenserfahrung und konsumiere nach 50 Jahren nicht plötzlich anders. Das war Znivas Ergebnis. Nur auf eine kleine Gruppe traf das nicht zu: Menschen mit altersbedingten Krankheiten oder frischen Erlebnissen wie dem Tod des Partners brauchten genauso viel Komfort wie die gestresste Jugend. „Es wird von der Nische auf das große Ganze geschlossen. Genau das ist der Fehler.“

Wenn man Maßnahmen einsetzt, die altersbedingte Defizite ausgleichen sollen, dürfe damit nie eine Stigmatisierung oder ein Alters-Label einhergehen. Der 50-plus-Markt war in diesem Sinn schon an seinem Namen gescheitert. „Verbesserungen müssen auf eine universelle Art geschehen. Etwa eine wirklich große Schrift auf allen Produktschildern.“

Über mehr Bequemlichkeit für alle wird sich keiner aufregen – über aufgezwungene Rollenbilder durch Lupen oder Rollator-Einkaufswägen aber vielleicht schon.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2016)

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