Wie der Handel endlich frei wurde

Der Hafen in Hamburg
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Die Ursprünge der Globalisierung liegen im 19. Jahrhundert – und in der Theorie der komparativen Kostenvorteile.

England, 1728. Während in den Bergwerken des Königreichs die ersten soeben erfundenen „Atmosphärischen Maschinen“ eingesetzt werden, um überflutete Schächte mit Dampfkraft auszupumpen, und im schottischen Kirkcaldy Adam Smith, der spätere Ahnvater der Nationalökonomie, seinem ersten Schultag entgegenfiebert, macht sich in London der Schriftsteller Daniel Defoe Gedanken darüber, wie sich Britannias Wohlstand mehren ließe. Der Autor des Bestsellers „Robinson Crusoe“ war diesbezüglich kein unbeschriebenes Blatt, denn vor seiner literarischen Karriere verdiente Defoe seinen Lebensunterhalt unter anderem mit Weinhandel. Der damals 68-Jährige stellte folglich den Warenaustausch in den Mittelpunkt seines Essays „A Plan of the English Commerce“. Doch die Vorstellungen, die Defoe von den Vorzügen des Handels hatte, unterschieden sich diametral von dem, was heutzutage Konsens ist. So befürwortete er unter anderem Industriespionage, Strafzölle, Monopole und staatliche Subventionen, um die eigenen Industrien zu fördern und sich auf Kosten seiner Nachbarn zu bereichern. Mit Freihandel hatte das alles herzlich wenig zu tun.

Knapp hundert Jahre später sah die Lage anders aus. Großbritannien war zum Handelsimperium aufgestiegen, Schutzzölle waren eine Hürde für die britischen Händler und Produzenten – und statt auf Protektionismus setzte man auf die Theorie der komparativen Kostenvorteile. Konzipiert hat sie 1817 der Ökonom David Ricardo, und sie besagt, dass es für Handelspartner immer sinnvoll ist, sich auf jene Waren zu konzentrieren, die sich am günstigsten produzieren und am gewinnbringendsten verkaufen lassen. Es ist demnach besser, wenn England Wolle verarbeitet und Wein aus Spanien bezieht, statt Geld und Energien für den heimischen Weinbau zu verschwenden.

Ricardos Erkenntnis ist die Stunde null der Globalisierung. In den zwei Jahrhunderten seit der Veröffentlichung seiner These hat der internationale Handel die Welt umgepflügt und reicher gemacht. Was früher in Kolonialwarengeschäften der Upper Class vorbehalten war, kann heute von breiten Schichten der Bevölkerung konsumiert werden. Die Idee, dass Handel am Ende des Tages allen Beteiligten nutzt, ist das Fundament des europäischen Integrationsprojekts – denn der gemeinsame Binnenmarkt der EU mit seinen vier Freiheiten des Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehrs ist nichts anderes als ein dicht geknüpftes Netzwerk der komparativen Kostenvorteile, eine Globalisierung im Regionalformat.

Ohne den freien Handel hätten es die Machthaber in der Volksrepublik China nicht geschafft, Hunderte Millionen ihrer Mitbürger aus der Armut zu holen. Komplexe, den Globus umspannende Lieferketten der internationalen Großkonzerne wären ebenso undenkbar wie der wirtschaftliche Aufschwung der ehemaligen Satellitenstaaten der UdSSR oder der asiatischen Tigerstaaten. Allein der Handel mit Waren war 2015 nach Berechnungen der Welthandelsorganisation WTO 16,5 Billionen US-Dollar wert – das ist in etwa so viel, wie die gesamte EU mit ihren 510 Millionen Bürgern innerhalb eines Jahres produziert. Ohne Handel wären diese Bürger ärmer. So betrachtet wirkt Globalisierungskritik wie der Rückfall in eine längst vergangene Epoche.

Wachstum vor Wettbewerb

Allerdings ist Kritik aus mindestens zwei Gründen nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Den ersten Hinweis liefert Defoes Gebrauchsanweisung für nationalen Wohlstand. Es stimmt, dass Großbritannien während der industriellen Revolution den Freihandel für sich entdeckt hat – doch davor wurden die britischen Industrien (etwa die Wollverarbeitung) mit tatkräftiger staatlicher Unterstützung aufgepäppelt und vor unliebsamer Konkurrenz (z.B. aus Niederlanden) geschützt. Erst als sie international wettbewerbsfähig waren, entließ London sie in die freie Wildbahn. Nach diesem Prinzip handelten auch Japan und Südkorea: Sie ließen internationalen Wettbewerb nicht zu, bevor ihre Exporteure dafür bereit waren. Erst dann öffneten sie sich für den Welthandel und entließen ihre hochgezüchteten Konzerne in die Freiheit. China folgte wenige Jahrzehnte später. Wer also freien Handel ohne Rücksicht auf den Entwicklungsstand der Handelspartner als Patentrezept für die wirtschaftliche Entwicklung anpreist, hat nicht verstanden, wie die heute wohlhabenden Nationen zu ihrem Wohlstand gekommen sind.

Auch innerhalb der EU gibt es ein Entwicklungsgefälle – doch dieses wird einerseits durch die Strukturförderungen und andererseits durch die Personenfreizügigkeit kompensiert. Ohne diese Faktoren hätten es die Bürger der osteuropäischen EU-Staaten nicht so einfach hingenommen, dass ihre heimischen Industrien der fortschrittlichen Konkurrenz aus dem Westen weichen mussten.

Den zweiten Kritikpunkt hat Handelsökonom Dani Rodrik von der Harvard University auf den Punkt gebracht. Demnach sehen sich alle Entscheidungsträger mit dem sogenannten politischen Trilemma der Weltwirtschaft konfrontiert: Sie müssen zwischen nationaler Souveränität, Demokratie und weltwirtschaftlicher Integration (vulgo Globalisierung) wählen und dürfen sich nur zwei von drei Elementen aussuchen. Wer für Souveränität und Demokratie votiert, tut dies auf Kosten der Globalisierung (so wie beim Bretton-Woods-Wirtschaftsmodell der Nachkriegsjahre mit seinen Kapitalverkehrskontrollen). Wer Globalisierung und Demokratie haben will, muss den Nationalstaat aushebeln und eine Weltregierung anstreben. Und die Kombination Globalisierung plus Nationalstaat geht auf Kosten der Demokratie, weil die Wähler keinen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik ihrer Länder haben.

In Europa und den USA war die Globalisierung seit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems die Conditio sine qua non. Politisch oszillierte man zwischen staatlicher Souveränität (Washingtoner Konsens) und dem demokratischen Experiment einer supranationalen EU. Das Problem ist nur, dass immer mehr Bürger Zweifel an den Vorteilen dieses Arrangements haben. Spätestens der EU-Austritt Großbritanniens müsste allen klargemacht haben, dass freier Welthandel nicht gottgegeben ist. Donald Trump, Nigel Farage und Marine Le Pen fordern die Rückkehr zu einer Welt, in der sich Daniel Defoe wohl fühlen würde.

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