Der Präsident rechtfertigt die Entfernung von europäischen Rechtsnormen mit dem „Willen des Volkes“. Wieder wurden kurdische Medien verboten und 10.000 Beamte entlassen.
Istanbul. Die Türkei plant konkrete Schritte zur baldigen Wiedereinführung der Todesstrafe. Premier Binali Yildirim sagte, seine Regierung strebe einen parlamentarischen Konsens an, um die Todesstrafe wieder einführen zu können. Ein solches Gesetz würde das Ende der türkischen EU-Bewerbung bedeuten, doch Präsident Recep Tayyip Erdoğan setzt sich auch auf anderen Gebieten weiter über europäische Rechtsnormen hinweg. So wurden erneut kurdische Medien verboten und die Autonomie der Universitäten weiter eingeschränkt.
In einer Rede sagte Erdoğan am Samstag, er sei sicher, dass das Parlament bald die Rückkehr der 2001 abgeschafften Todesstrafe beschließen werde. Als Präsident werde er dieses Gesetz in Kraft setzen. In den vergangenen Monaten hatte der Staatspräsident erklärt, die Todesstrafe für die mutmaßlichen Hintermänner des Putschversuchs vom 15. Juli einführen zu wollen, auch wenn eine solche rückwirkende Anwendung neuer Gesetze rechtsstaatlichen Regeln widerspricht.
Die EU verlangt von allen Beitrittsbewerbern die Abschaffung der Todesstrafe; deshalb wäre Erdoğans Plan das Aus für den ohnehin bereits schwer belasteten EU-Prozess der Türkei. In seiner Rede betonte der Staatschef, solche Überlegungen kümmerten ihn nicht. Wichtig sei nicht, was der Westen sage, sondern was sein Volk sage. Zuhörer seiner Ansprache verlangten in Sprechchören die Wiedereinführung des Strangs. Sollte das Parlament Erdoğans Wunsch nachkommen, müsste der angebliche Putsch-Anführer Fethullah Gülen nach der von Ankara verlangten Auslieferung aus den USA mit der Todesstrafe rechnen.
Terrorverdächtige ohne Anwalt
Auch andere Entscheidungen Ankaras signalisieren ein Abrücken der Türkei von EU-Normen. Erneut wurden mehr als ein Dutzend kurdische Medien verboten. Hasan Cemal, einer der angesehensten Kommentatoren, verlor die Akkreditierung. Laut neuen Dekreten kann Terrorverdächtigen künftig bis zu sechs Monaten lang der Kontakt zu einem Anwalt verweigert werden. Zudem dürfen die Behörden vertrauliche Gespräche zwischen Anwälten und Mandanten abhören und vor Gericht verwenden.
Gleichzeitig verloren, wie am Wochenende bekannt wurde, weitere 10.000 Mitarbeiter der Ministerien für Bildung, Gesundheit und Justiz ihre Posten, weil sie im Verdacht stehen, Gülen-Anhänger zu sein. Damit wurden seit dem Putschversuch mehr als 100.000 Beamte und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes entlassen. Erdoğan schränkte die Selbstverwaltung der Universitäten ein, indem er die Wahl der Rektoren durch die Hochschulen abschaffte. Künftig werden die Rektoren vom Staatspräsidenten persönlich ernannt.
Auch erleichterte die Regierung mit ihren jüngsten Dekreten die Abschiebung von Ausländern bei Terrorverdacht. Die bisherige Bedingung, nach der dies nur mit einem Gerichtsbeschluss möglich ist, wurde abgeschafft. Der nach dem Putschversuch verhängte Ausnahmezustand gibt Erdoğan die Möglichkeit, per Verordnung und unter Umgehung des Parlaments zu regieren. Der Chef der Kurdenpartei HDP, Selahattin Demirtaş, warf dem Präsidenten vor, mit nationalistischen Scheuklappen und nur zugunsten der eigenen Prioritäten Politik zu machen. „Wir werden bis zum letzten Atemzug Widerstand leisten“, sagte Demirtaş.
Viel ausrichten kann die Opposition allerdings nicht. Prominente Kurdenpolitiker sitzen im Gefängnis; Demirtaş' Ko-Vorsitzende Figen Yüksekdağ wurde mit einem Ausreiseverbot belegt. Im westtürkischen Aydin wurde der Vizechef der säkularistischen Oppositionspartei CHP, Bülent Tezcan, von einem Attentäter verletzt. Indes ordnete das US-Außenministerium wegen drohender Terroranschläge in der Türkei den Abzug der Familienmitglieder von Mitarbeitern des amerikanischen Generalkonsulats in Istanbul an. Das deutsche Generalkonsulat am Bosporus erklärte, „konkrete neue Hinweise auf eine allgemeine Gefährdung von Ausländern“ in Istanbul gebe es nicht.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2016)