Der kleinste gemeinsame Nenner wird stündlich kleiner

Kanadas Premierminister Justin Trudeau und Ratspräsident Donald Tusk.
Kanadas Premierminister Justin Trudeau und Ratspräsident Donald Tusk.(c) APA/AFP/POOL/FRANCOIS LENOIR
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Nach Ceta die Sintflut. Das Hickhack um den Pakt mit Kanada zeigt, dass die EU bedingt handlungsfähig ist. Nun geht es darum, das Bestehende zu bewahren.

Die Eile war zwar wenig staatsmännisch, dafür aber umso verständlicher. Nicht einmal 48 Stunden nachdem sich Belgien zusammengerauft und am Freitag die Blockade des europäisch-kanadischen Freihandelsabkommens Ceta aufgegeben hatte, düste Kanadas Premierminister, Justin Trudeau, über den Atlantik, um gemeinsam mit Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker den Pakt aus der Taufe zu heben. Am Sonntag galt in Brüssel das Motto, wonach Eisen zu schmieden ist, solange es noch heiß ist – denn allen Beteiligten war bewusst, dass es nicht allzu lang dauern kann, bis ein anderer EU-Mitgliedstaat punkto Ceta kalte Füße bekommen und wie die belgische Wallonie Einspruch erheben wird.

Mit der gestrigen Unterzeichnung von Ceta wurde der Sack mehr oder weniger zugemacht. Das Abkommen kann vorläufig angewendet werden – ausgeklammert bleiben Punkte wie die umstrittenen Schutzklauseln für Investoren, die in den nationalen Zuständigkeitsbereich fallen. Theoretisch müssten sich die EU-Mitglieder nun darum bemühen, den Handelspakt daheim zu ratifizieren, damit er in seiner Gesamtheit in Kraft treten kann. Daran, dass dies auch tatsächlich passiert, glaubt so gut wie niemand. Ceta bleibt ein ewiges Provisorium. Und es ist vermutlich das letzte Handelsabkommen der Europäer.

Angesichts der Erfahrung mit Kanada muss man sehr weltfremd sein, um noch an einen Erfolg des Handelsabkommens mit den USA zu glauben. Eine mindestens genauso große Dosis naiven Optimismus benötigen jene, die den Abschluss eines Freihandelsabkommens mit Großbritannien nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU für möglich halten. Die Einzigen, die sich noch eine klitzekleine Hoffnung auf die Unterzeichnung eines Handelspakts machen können, sind die Japaner, die seit dreieinhalb Jahren mit der EU verhandeln – aber auch nur deswegen, weil sie zu weit weg und zu exotisch sind, um für die europäischen Wähler bedrohlich zu wirken. Für den Rest der Welt gilt: Nach Ceta die Sintflut.

Das momentan größte Problem des gemeinsamen Hauses Europa ist, dass es auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner seiner Bewohner gebaut ist, dieses Fundament aber stündlich kleiner wird. Die Wallonen haben allen Beteiligten vor Augen geführt, wohin das Beharren auf Partikularinteressen ohne Rücksicht auf Verluste führt: zu anarchischen Zuständen wie in der polnisch-litauischen Adelsrepublik, als ein einzelner Edelmann mit seinem Einspruch den gesamten Gesetzgebungsprozess blockieren konnte. Dieses sogenannte Liberum Veto war der letzte Nagel am Sarg der Wahlmonarchie. Sie war nicht mehr handlungsfähig.

So weit ist es mit der EU zum Glück noch nicht gekommen, doch die Häufung von Einsprüchen und Referenden (beispielsweise das Nein der niederländischen Wähler zum Assoziierungsabkommen mit der Ukraine) schränkt den Handlungsspielraum Brüssels zusehends ein. In der Zwischenzeit ist man im Hauptquartier der EU-Kommission dazu übergegangen, alle Gesetzesinitiativen von der Agenda zu streichen, die von Populisten als Munition gegen die verhassten Eurokraten verwendet werden könnten. Zuletzt musste etwa die geplante Regulierung des Stromverbrauchs von Haushaltsgeräten dran glauben – dem Vorwurf, die EU wolle den Bürgern ihren heiß geliebten Föhn wegnehmen, wollte man sich in Brüssel nicht aussetzen.

Nach anfänglichem Jetzt-erst-recht-Gerede haben europapolitische Entscheidungsträger (spät, aber doch) erkannt, dass es jetzt nicht darum geht, die Union zu verbreitern oder zu vertiefen, sondern darum, sie zu retten. Ihr Kern ist der Binnenmarkt, von dem jeder Teilnehmer in unterschiedlichem Ausmaß profitiert. Es ist der Ort, an dem die EU-Mitglieder lernen, dass es sich auszahlt, kompromissbereit zu sein. Wer nicht will, dass die EU von Populisten sturmreif geschossen wird, muss dafür sorgen, dass der gemeinsame Binnenmarkt mit seinem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitnehmern keinen Schaden nimmt. Er ist der kleinste gemeinsame Nenner, ohne den es die EU nicht geben kann. Das Fehlen des Investorenschutzes lässt sich verschmerzen.

 

E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2016)


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