Staatsoper: Auf der Suche nach der verlorenen Schönheit

(C) Staatsoper/Ashley Taylor
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Wiens Ballett-Compagnie demonstriert mit Balanchine, was sie kann, und macht eine Erst- und eine Uraufführung zu spannenden Ereignissen: Der Zuschauer erlebt den Absturz von der puren Illusion in die Realität.

Will man dem neuen, dreiteiligen Staatsopern-Ballettprogramm eine übergreifende Dramaturgie zuschreiben, dann geht es an diesem Abend vielleicht um den Verlust unseres natürlichen Gefühls für Schönheit. Eine erfreuliche Wiederbegegnung, eine Wiener Erstaufführung und eine Novität beschreiben diesbezüglich eine konsequente Abwärtsbewegung – und enden quasi in einem Nirwana, in dem nur noch die Schattenrisse einstiger Poesie zu sehen sind.

George Balanchines „Symphonie in C“ zuerst, einst in Wien unter dem Titel „Palais de Crystal“ zu erleben und heute – auch im Vergleich zu früheren Einstudierungen – ein exquisiter Beweis für die in der Ära Manuel Legris' erreichte künstlerische Höhe. Balanchines elegante, wunderbar zart gesponnene Nachzeichnung der quirlig-frischen Jugendsünde des „Carmen“-Komponisten gehört zu den Spitzenwerken abstrakter, in Bewegung verwandelter Musik. Dem Klassizismus des genialen Teenagers Bizet, der hier Mozart und Haydn nachforscht und ein handwerklich grandioses Gesellenstück mit einigen romantischen Einsprengseln liefert, entspricht Balanchines subtile Linienführung. Und die Mitglieder des Staatsballetts wissen diese heute als Corps wie solistisch makellos zu realisieren.

Klassizistische Klarheit und Charakter

Bei aller Klarheit und der nötigen noblen Distanz werden doch höchst unterschiedliche Charaktere sichtbar: die Geschmeidigkeit etwa, mit der Natascha Mair an der Seite von Jakob Feyferlik im ersten Satz agiert, ohne über kleinteiliger Präzisionsarbeit die Melodien aus dem Sinn zu verlieren, die sich über viele Takte spannen. Berückend, wie sie sich an eine elegant geschwungene Oboenkantilene anzuschmiegen weiß. Liudmila Konovalova gelingt Ähnliches neben Vladimir Shishov, sogar im Adagio schier endlos auf Spitze stehend, bei langsamstem Tempo, dessen Spannung sie ebenso mühelos ausfüllt wie die philharmonischen Musiker unter Fayçal Karoui. Bemerkenswert auch, wie Nina Tonoli und Denys Cherevychko, jeder für sich und vollkommen harmonisch im Duett, die springlebendige Fröhlichkeit des Scherzo-Satzes, ganz wie Bizet das musikalisch tut, in die kontrastierend weich gebundenen Legatophrasen hereinholen.

Ebensowenig vergessen Alice Firenze, Robert Gabdullin und das Corps de Ballet im Finale über virtuos ausgekosteter Ausgelassenheit die nötige Eleganz; es ist ja Klassizismus französischer Provenienz, der hier erklingt, ihm haftet keine Erdenschwere an. Das kann man beim Staatsballett jetzt auch sehen.

Erfreulich auch der Elan, mit dem sich das Staatsballett der für Wien neuen „Murmuration“ von Choreograf Edwaard Liang widmet, der, inspiriert von Vogelschwärmen, deren unerklärliches Regelmaß in tänzerische Aktion umzusetzen versucht. Dabei herrscht vollkommene Harmonie, wo Bewegungen parallel geführt werden, aber auch dort, wo sie in sensibel gegliederter Abfolge zu absolvieren sind.

Im Mittelteil des Werks fallen Vogelfedern vom sich verdüsternden Himmel. Und die immer wieder sanft geerdeten Flugversuche verwandeln sich in ihr Gegenteil: Heikle Verschlingungen und Sturzflüge zwingen die Solistinnen zur vollkommenen, vertrauensvollen Hingabe an ihre Partner, bevor im Finale die ruhigen Flugbilder – zunächst den von Roman Lazik geführten Männern vorbehalten – hektisch aufgescheucht werden: Expressive Soli entsprechen den pulsierenden Tönen, die Konzertmeisterin Albena Danailova mit Ezio Bossos Violinkonzert aus dem Orchestergraben heraufschickt.

Die auf Dauer öden Repetitionen dieser Musik stehen quer zu den fließend entwickelten Erzählströmen von Liangs tänzerischer Sprache. Ein Manko, das auch für die Uraufführung dieses dreiteiligen Abends gilt, denn Daniel Proietto hat für „Blanc“ nebst Chopin-Fragmenten (mit Maria Radutu am Flügel) ebenfalls Minimalistisches gewählt: Mikael Karlssons musikalische Assoziationen zu Chopins Romantik entsprechen Proiettos Erinnerungen an Fokines „Sylphide“.

Selbst die Schatten verschwinden

Ein Poet (Laurence Rupp) wandert durch dieses duftig-schöne Ballett-Déjà-vu, murmelt kaum verständlich etwas von der Sinnlosigkeit, heute noch dichten zu wollen – worauf die Solisten, Ketevan Papava als Sylphide und Eno Peci als des Poeten Schatten, ihm durchaus verständnisvoll klagend zu antworten scheinen. Auch für Ballettmeister ist es ja schwer, der klassischen Tanzkunst wertbeständiges Neues entgegenzusetzen.

Die negative Energie, die im kämpferischen Pas de trois von Natascha Mair, Davide Dato und Masayu Kimoto frei wird, findet denn auch beim Publikum den stärksten Anklang: Das ist ja vielleicht die adäquate Reaktion auf den Istzustand unserer Kultur. Der Rest ist – wie am Ende von Proiettos neuem Werk – Resignation: Nicht nur die Lebensgeister, sogar die Schatten schwinden zuletzt.

Reprisen: 4., 5. und 18. November.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2016)

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