Außenminister Çavuşoğlu fordert die sofortige Aufhebung der Visumpflicht, sonst werde die Türkei das Abkommen mit der EU noch vor Jahresende platzen lassen.
Brüssel. „Unsere Geduld neigt sich dem Ende zu“ – mit diesen Worten drohte der türkische Außenminister, Mevlüt Çavuşoğlu, der EU (wieder einmal) das Ende des Flüchtlingsdeals an, sollten die Europäer ihre Visumpflicht für türkische Staatsbürger nicht aufheben. Noch „in diesen Tagen“ müsse es eine Antwort aus Brüssel geben, sonst werde sein Land das Abkommen vor Jahresende aufkündigen, sagte Çavuşoğlu in einem Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“.
Die Drohung im Zusammenhang mit der Visaliberalisierung ist nicht neu, denn ursprünglich sollte die EU den Türken bereits im Juni Reisefreiheit nach Europa gewähren. Daraus wurde nichts, die bis dato letzte Frist aus türkischer Sicht verstrich Ende Oktober. Der Grund dafür: Die Aufhebung der Visumpflicht ist an die Umsetzung eines 72 Punkte umfassenden Anforderungskatalogs geknüpft. Die meisten Punkte hat Ankara bereits umgesetzt – nicht aber die geforderte Novellierung der Antiterrorgesetze, die nach Ansicht der Europäer nicht nur gegen Terroristen, sondern zunehmend gegen Journalisten und Kritiker von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan eingesetzt würden. Eine Gesetzesänderung kommt für Ankara allerdings nicht infrage: „Unser Volk würde das als Schwächung der Terrorbekämpfung verstehen“, sagte Çavuşoğlu. Sein Vorgesetzter sieht indes nicht die Türkei, sondern Deutschland in der Pflicht: Die Bundesrepublik sei „eines der wichtigsten Länder, in denen Terroristen Unterschlupf finden“, behauptete Erdoğan am Donnerstag.
Indirekte Junktimierung
Die indirekte Junktimierung der Visaliberalisierung mit der Flüchtlingsfrage war der (rückblickend betrachtet etwas unweise) Versuch der Europäer, der Türkei die Zusammenarbeit schmackhaft zu machen. Im März hatte die EU mit Ankara ein Abkommen geschlossen, das die Rücknahme aller aus der Türkei nach Griechenland gelangten Flüchtlinge und irregulären Migranten vorsieht. Im Gegenzug verpflichtete sich die EU dazu, insgesamt sechs Milliarden Euro für die Unterbringung der Flüchtlinge in der Türkei zur Verfügung zu stellen, die EU-Beitrittsverhandlungen voranzutreiben – sowie die Visumpflicht möglichst rasch aufzuheben. Letzteres ist seit geraumer Zeit der Herzenswunsch der türkischen Regierung. Doch selbst im März hatte die EU darauf bestanden, dass die Türkei alle dafür notwendigen Kriterien erfüllt. Ankara wiederum sieht die Visaliberalisierung als Belohnung dafür, die Flüchtlinge von der Überfahrt auf die griechischen Ägäis-Inseln abzuhalten.
In Brüssel war man gestern bemüht, die Wogen zu glätten. Die EU werde sich weiterhin an alle Vereinbarungen halten, sagte ein Sprecher der Brüsseler Behörde. Doch bereits Mitte der kommenden Woche wird die Brüsseler Diplomatie einer neuen Belastungsprobe unterzogen: Die Veröffentlichung des Fortschrittsberichts zu den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei steht an. Die EU-Kommission hatte zuvor angekündigt, dass sie diesmal das Vorgehen des türkischen Staates gegen regimekritische Medien unter die Lupe nehmen wolle. Nachdem sich die Lage in der Zwischenzeit deutlich verschärft hat, kann es sich die Brüsseler Behörde nicht mehr leisten, Ankara mit Glacéhandschuhen anzufassen. (la)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2016)