Setzt der türkische Präsident Erdoğan sein Ziel eines islamistisch geprägten Präsidialstaates um, drohen Folgen.
Die Inhaftierung kurdischer Abgeordneter und oppositioneller Journalisten in der Türkei diese Woche entspricht einem Eskalationsmuster, das seit dem Putschversuch vom Juli die politische Linie von Präsident Recep Tayyip Erdoğan bestimmt. Der 62-Jährige nutzt das Entsetzen der Öffentlichkeit über den Umsturzversuch sowie den Ausnahmezustand zur Vorbereitung eines Präsidialsystems mit ihm an der Spitze. Kritiker fürchten, dass er das Land in einen Bürgerkrieg treibt.
Offiziell werden die Haftbefehle gegen die Chefs der legalen Kurdenpartei HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdag, sowie sieben weitere HDP-Parlamentarier mit deren Aussageverweigerung in Terrorverfahren begründet; am Samstag wurden weitere neun Politiker der HDP festgenommen, darunter die Provinz- und Bezirksvorsitzenden der Provinz Adana. Dennoch weiß jeder Türke, dass es sich in Wirklichkeit um eine offene Kampfansage an die Kurden handelt. Die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) rief bereits zum Aufstand auf.
Der „blutige Höllenschlund“ geht auf. Ankara weiß, welche Folgen es haben kann, wenn die legalen Vertreter der Kurden neutralisiert werden. Das Land werde in einen „blutigen Höllenschlund“ gezogen, schrieb Journalist Hasan Çemal, einer der letzten prominenten Erdoğan-Kritiker, die noch in Freiheit sind. In einem Beitrag für das Nachrichtenportal T24 warf er dem Präsidenten vor, eine Diktatur errichten zu wollen. Weitgehend unumstritten ist, dass Erdoğan sich den mehrheitlich konservativen Türken als Garant der Stabilität zeigen will, um die laut Umfragen verbreitete Skepsis gegen ein Präsidialsystem abzubauen. Die Gewaltwelle der PKK seit 2015 und der Putschversuch bieten ihm Gelegenheiten, das in die Tat umzusetzen.
Im Frühjahr will Erdoğan das Volk über den Übergang vom Parlaments- zum Präsidialsystem abstimmen lassen. Dabei soll auch die von vielen befürwortete Wiedereinführung der Todesstrafe beschlossen werden. Eine weitere politische Polarisierung könnte Erdoğan helfen, die nötigen Mehrheiten zu bekommen. Schon bei der Parlamentswahl vor einem Jahr profitierte seine Regierungspartei AKP von den neuen Spannungen im Kurdenkonflikt
Seit dem Putschversuch sind zudem mehr als 100.000 Beamte und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes entlassen worden; fast 40.000 angebliche Putschhelfer sitzen in U-Haft. Weil es in den Gefängnissen eng wird, kommen gewöhnliche Kriminelle frei. Die Hexenjagd wird benutzt, um die Dominanz der AKP-Anhänger im Staatsapparat zu zementieren. Gleichzeitig soll die mit der AKP rivalisierende Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen zerschlagen werden. Der Druck auf die Medien entspricht ebenfalls Erdoğans Interessen. Die Haftbefehle gegen neun Journalisten des Oppositionsblattes „Cumhuriyet“ vom Samstag können dazu beitragen, die Presse vor den Referenden auf Linie zu bringen. Die Polizei löste am Samstag in Istanbul eine Solidaritätsdemo zugunsten von „Cumhuriyet“ mit Gewalt auf.
Mohammed als Maßstab. Der Charakter der Türkei dürfte sich grundlegend wandeln: allmächtiger Präsident, wichtige Institutionen wie Justiz, Polizei und Armee auf Linie, begrenzte Rechte der Opposition. Es heißt, Erdoğan wolle eine „auf dem Islam und konservativ-religiösen Werten“ basierende Ideologie verankern. Zum TV-Sender al-Jazeera sagte er, der Prophet Mohammed sei für ihn die oberste Richtschnur.
Geordneten Widerstand gibt es nicht. Nur vereinzelt wird Kritik in den Reihen der AKP laut. Erdoğan-Skeptiker wie Ex-Präsident Abdullah Gül haben sich in die innere Emigration zurückgezogen. Zumindest in der nächsten Zeit sind deshalb weitere Spannungen und möglicherweise auch blutige Auseinandersetzungen zu erwarten.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2016)