EU-Bericht: Schlechtes Zeugnis für die Türkei

Staatschef Recep Tayyip Erdoğan.
Staatschef Recep Tayyip Erdoğan.(c) APA/AFP/ADEM ALTAN
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Am Mittwoch stellt die Kommission ihren Bericht zum Stand der Beitrittsreife vor. Angesichts der Hetzjagd auf politische Gegner wird er diesmal dezidiert kritisch ausfallen.

Brüssel. Wenn am morgigen Mittwoch die EU-Kommission ihren Bericht zum Stand der Beitrittsreife der Türkei veröffentlicht, wird die europäische Öffentlichkeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht in Richtung Bosporus blicken, sondern mit dem Sieger der US-Präsidentenwahl beschäftigt sein. Für die Brüsseler Behörde dürfte dieser Zustand der medialen Ablenkung durchaus willkommen sein, denn der Inhalt des gut hundertseitigen Berichts ist äußerst brisant: Angesichts der fortschreitenden Demontage des demokratischen Rechtsstaats wird die Kommission aller Voraussicht nach die Dinge beim Namen nennen.

Wie die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ berichtete, wird die EU-Kommission der Türkei „das bisher schlechteste Zeugnis“ ausstellen. Kritisiert werden demnach die Verhaftungen von regimekritischen Journalisten, die Schließung von Medien und der „selektive und willkürliche“ Einsatz der Antiterrorgesetze – also jener Vorschriften, die Ankara eigentlich novellieren sollte, um in den Genuss der EU-Visafreiheit zu kommen. Dass Staatschef Recep Tayyip Erdoğan nicht daran denkt, die Gesetze zu reformieren, wurde von türkischen Regierungsvertretern bereits wiederholt kundgetan. Ankara will vielmehr die Visaliberalisierung durch die Drohung mit der Aufkündigung des Flüchtlingsabkommens erzwingen.

Erste Sanktionsdrohung

Was also tun mit dem unbequemen Nachbarn? Morgen wird die EU-Kommission über etwaige Reaktionen auf die Entwicklungen in der Türkei beraten, die endgültige Antwort müssen aber die Staats- und Regierungschefs der EU geben. Bis dato herrschte die Meinung vor, wonach man die Türkei als Partner behandeln und durch Anbindung an und Dialog mit der EU auf den Pfad der demokratiepolitischen Tugend zurückführen müsse. Mittlerweile werden in manchen Hauptstädten der Union aber bereits andere Töne angeschlagen. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn, der für seine verbale Grobschlächtigkeit bekannt ist, verglich das Vorgehen der türkischen Sicherheitsbehörden mit „Methoden aus der Nazi-Zeit“ und schloss am gestrigen Montag Wirtschaftssanktionen gegen den EU-Beitrittskandidaten nicht aus.

Ins selbe Horn stieß der nach Deutschland geflüchtete ehemalige Chefredakteur der säkularen Tageszeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar: Die Türkei steuere auf ein „Gestaporegime“ zu. Auch in Ankara scheint man übrigens in denselben historischen Kategorien zu denken – wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen: So sprach der türkische EU-Minister, Ömer ?elik, gestern davon, sein Land kämpfe gegen die Organisation des Predigers Fetullah Gülen wie einst die Alliierten gegen die Nazis. Für Außenminister Sebastian Kurz wiederum hat die Türkei längst alle roten Linien überschritten und sei in der Europäischer Union fehl am Platz, wie er am Montag in einem Radiointerview erklärte.

Merkel versucht zu beruhigen

Um Deeskalation bemüht war zu Wochenbeginn die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel – Ideengeberin und größte politische Profiteurin des Flüchtlingspakts mit Ankara. „Die Bundesregierung beteiligt sich jetzt nicht an einer Sanktionsdebatte“, ließ am Montag Regierungssprecher Steffen Seibert wissen. Man müsse zu einer „klaren und gemeinsamen europäischen Haltung“ finden und mit der türkischen Regierung „Gesprächskanäle offenhalten“. Seibert machte allerdings auch klar, wo Merkels rote Linie liege: bei der Todesstrafe. Würde Ankara zur Praxis der Hinrichtungen zurückkehren, müssten die EU-Beitrittsgespräche beendet werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2016)

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