EU-Staaten wollen trotz Verhaftungswelle und angekündigter Todesstrafe vorerst an Beitrittsverhandlungen mit Ankara festhalten.
Berlin/Brüssel. Die jüngsten Verhaftungswellen und Repressionen gegen Kritiker der türkischen Führung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan könnten zu einer Ausreisewelle von Dissidenten führen. Erstmals hat ihnen mit Deutschland ein EU-Land Asyl angeboten. „Deutschland ist ein weltoffenes Land und steht allen politisch Verfolgten im Grundsatz offen“, sagte Europa-Staatssekretär Michael Roth (SPD) in einem Interview mit der „Welt“. „Das gilt dezidiert nicht nur für Journalisten“, so Roth. Er wies aber darauf hin, dass es letztlich die zuständige Behörde sein werde, die über derartige Asylanträge entscheide.
Indessen hat die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini eine gemeinsame Stellungnahme der Mitgliedstaaten veröffentlicht, wonach die EU-Regierungen trotz der jüngsten Entwicklungen und der angekündigten Einführung der Todesstrafe an den Beitrittsverhandlungen mit Ankara festhalten werden. Die Situation werde allerdings weiter sehr aufmerksam verfolgt und bewertet werden, so Mogherini. Sie warnte insbesondere vor einer Schwächung des Rechtsstaats in der Türkei. Heute, Mittwoch, wird die Kommission einen Bericht zur Lage in der Türkei vorlegen.
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wies darauf hin, dass sich die EU nicht von Ankara erpressen lasse. „Ich bin unempfindlich gegen Drohungen der türkischen Führung, die uns angekündigt hat, dass, wenn es keine Einigung bei den Visa gibt, das Flüchtlingsabkommen infrage gestellt wird.“ Juncker sprach sich gegen ein Entgegenkommen aus: „Wenn die Türkei nicht die vorgesehenen Bedingungen erfüllt, wird es auch keinen Fortschritt im Bereich Visa geben.“ (ag.)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2016)