Türkei: „Die Ideale Atatürks sind in Gefahr“

Allein über die Todesstrafe zu sprechen sei eine Schande, sagt der Abgeordnete Hilmi Yarayici.
Allein über die Todesstrafe zu sprechen sei eine Schande, sagt der Abgeordnete Hilmi Yarayici. (c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Die Türkei werde unter Erdoğan bereits regiert wie im Präsidialsystem, sagt der sozialdemokratische Oppositionspolitiker Hilmi Yarayici.

Die Presse: Die türkische Regierung geht massiv gegen die prokurdische Partei HDP vor...

Hilmi Yarayıcı: Die Verhaftung der beiden HDP-Vorsitzenden und anderen Abgeordneten ist undemokratisch. Die Regierung will der HDP die legale Basis entziehen, das können wir nicht unterstützen. Die Kurdenfrage hätte mit einer gewählten Partei im Parlament gelöst werden können, aber die Regierung stößt sie dauernd vor den Kopf. Ich verurteile das.

Die linke HDP wird zwar von vielen Kurden unterstützt, aber nicht nur. Die Verbindungen zwischen Ihrer Partei CHP und den Kurden war nicht immer gut. Wie kann die CHP zur Lösung der Kurdenfrage beitragen – vor allem jetzt?

In der CHP haben wir Kurden, Araber, Armenier, Aleviten, Sunniten, Christen und anderen Minderheiten, ich selbst bin arabischstämmig. Die Partei behandelt alle gleich und steht für alle offen. Wir bemühen uns um die Kurdenfrage, aber wir kommen an einen Punkt, wo Gewalt mit Gewalt beantwortet wird. Wir betonen die Rechte der Kurden, und gleichzeitig verüben PKK oder TAK (Freiheitsfalken Kurdistans, Anm.) Anschläge und Zivilisten kommen um. Die Logik, dass im Südosten Kurden sterben, und nun im Westen auch Türken sterben sollen, können wir nicht akzeptieren.

Wenn die HDP und die CHP enger zusammenarbeiten würden, wäre die Opposition zur regierenden AKP nicht wirksamer?

Wir machen alles, was wir können. Wir denken, dass die Verantwortlichen für den Putsch (Putschversuch im Juli, Anm.) bestraft werden müssen. Aber den Putsch als Vorwand für eine Hexenjagd zu nehmen, akzeptieren wir nicht. Zum Beispiel sind Akademiker betroffen, Lehrer, Staatsanwälte, Richter, Journalisten. Medienhäuser werden geschlossen. Die Operationen sind rechtswidrig. Wir wenden uns an das Verfassungsgericht, stellen parlamentarische Anfragen.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan will ein Präsidialsystem einführen, das ihn mit mehr Macht ausstattet. Kann er damit durchkommen?

Ich hoffe nicht. Bisher wissen wir nicht, wie und warum er das Präsidalsystem einführen will. Sobald wir die Details wissen, werden wir reagieren. Aber momentan verhält er sich ohnehin wie im Präsidialsystem, er bestimmt über den Regierungschef, die Minister und Gouverneure und fast schon die Bürgermeister. Er fordert seine Anhänger dazu auf, sich zu bewaffnen. Das ist sehr gefährlich.

Ihre Partei ist auf den Republiksgründer Mustafa Kemal Atatürk zurückzuführen. Sind dessen Ideale wie Laizismus in Gefahr?

Auf jeden Fall. Selbst der Präsident der Großen Nationalversammlung hat sich negativ über den Laizismus geäußert, es wird davon gesprochen, den Laizismus abzuschaffen. Das ist keine Regierung, die sich nur annähernd mit Atatürk vergleichen kann. Wir sprechen hier von einem Präsidenten, der in der Putschnacht Hunderte Menschen auf die Straße gerufen hat, dabei sind Menschen gestorben. Und das ist dann wie ein Fest gefeiert worden. Erdoğan sagt, diese Menschen sind für uns gestorben, aber in Wahrheit starben sie für ihn. Wir sprechen von einer Partei, die Diebstahl begeht. Vier Minister sind betroffen, alles kam an die Öffentlichkeit, aber ist nun unter den Teppich gekehrt worden. Die Regierung hat Terrororganisationen wie den „Islamischen Staat“ oder Al-Nusra unterstützt, mit Geld und Waffen. Sie haben Anteil daran, dass Krieg in Syrien zu diesem Punkt gekommen ist.

Zuletzt sind mehrere Journalisten der liberalen „Cumhuriyet“ verhaftet worden, die Zeitung gilt als letzte große, regierungskritische Publikation und steht zum laizistischen erbe. Ein symbolischer Angriff auf das Erbe Atatürks?

„Cumhuriyet“ hat die republikanischen Werte wie Laizismus hochgehalten. Mit der Schließung wollen sie sagen: „Wenn du nicht denkst wie ich, wenn du nicht bei mir bist, dann bedeutet das dein Ende.“ Dasselbe macht die Regierung mit den Lehrern – vor allem mit den gewerkschaftlich organisierten. Über 11.000 sind vom Dienst entfernt worden, weil sie am 29. Dezember eine Friedensveranstaltung organisiert haben. Frieden, das will doch jeder ehrenhafte Lehrer für seine Schüler! Ihnen wird jetzt vorgeworfen, dass sie Terror unterstützen. Das zeigt uns auch, wie schnell nach der Putschnacht so viele Lehrer aus dem Dienst entfernt werden konnten. Es ist vorher schon geplant und vorbereitet worden, die Namen gab es schon auf der Liste. Und wenn wir uns diese Betroffenen vom Dezember anschauen: das sind Demokraten, Kurden, Progressive, Aleviten usw. Wir sagen: Wenn jemand mit dem Putsch in Verbindung steht, muss er bestraft werden. Aber innerhalb des rechtlichen Rahmens.

Für die EU-Beitrittsverhandlungen ist die Todesstrafe, die Erdoğan einführen will, ein rotes Tuch. Wenn zum Beispiel der inhaftierte PKK-Gründer Abdullah Öcalan hingerichtet wird, wie manche verlangen, gerät der Südosten in das reinste Chaos...

Ja. Wir sind definitiv gegen die Todesstrafe. Im 21. Jahrhundert allein über die Todesstrafe zu sprechen, ist eine Schande. Und es geht nicht nur um Öcalan. Unsere Vergangenheit hat gezeigt, dass vor allem Demokraten, Fortschrittliche, Künstler usw. hingerichtet worden sind. Die Todesstrafe wird nicht, wie sie sagen, nur bei Vergewaltigern oder Gülenisten angewendet. Aber auch das wäre nicht zu akzeptieren.

Für den Aufstieg der Gülen-Bewegung, die hinter dem Putsch stehen soll, zeigt sich doch auch die AKP verantwortlich; man hat jahrelang zusammengearbeitet.

Ja, und wir verlangen, dass die AKP in politischer Hinsicht Rechenschaft ablegen muss. Noch immer gibt es Verbindungen zwischen der AKP und Gülen, das muss untersucht werden. Sie haben immer gewusst, woran sie bei der Bewegung sind. Jetzt hört man von der Parteiführung: „Wir sind betrogen worden. Wir haben nichts gewusst. Allah soll uns vergeben.“ Wir können das nicht akzeptieren.

Sie waren früher Musiker bei der Gruppe „Grup Yorum“, die für linke, kämpferische und politische Lieder steht. Auch gegen die Musikgruppe ging die Regierung vor...

Es gab in Istanbul eine Operation die Gruppe, die Musikinstrumente sind zerstört worden. Dort gibt es keine Bomben, dort passiert es nichts rechtswidriges, warum also dieser Zorn? Sogar vor Liedern haben sie Angst.

Zur Person

Hilmi Yarayici, Jahrgang 1968, ist Abgeordneter der sozialdemokratischen CHP im türkischen Parlament. Yarayici ist Musiker und war früher Mitglied der linken Band Grup Yorum. Der Politiker war kürzlich in Wien und hat über die Lage in der Türkei berichtet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2016)

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