Ankara verbittet sich jegliche europäische Kritik

Erdoğans nationalistisch ausgerichtete Politik lässt das Geschäft mit Fahnen in Istanbul florieren.
Erdoğans nationalistisch ausgerichtete Politik lässt das Geschäft mit Fahnen in Istanbul florieren. (c) APA/AFP/OZAN KOSE
  • Drucken

Die EU-Kommission prangert erhebliche Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit und ernste Rückschritte bei der Meinungsfreiheit an. Staatschef Erdoğan droht bei Abbruch der Beitrittsverhandlungen, Millionen Flüchtlinge loszuschicken.

Brüssel. Es ist der letzte Bericht für eine lange Zeit: Am gestrigen Mittwoch präsentierte die EU-Kommission im Windschatten der US-Präsidentenkür (ein Schelm, wer angesichts der Wahl dieses Zeitpunkts Böses denkt) ihren Report zum Stand der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Angesichts seines Inhalts erscheint es nur logisch, dass der für Erweiterungsfragen zuständige Kommissar, Johannes Hahn, die gestrige Vorstellung zum Anlass genommen hat, um zu verkünden, dass es den nächsten Fortschrittsbericht erst in eineinhalb Jahren (also im Frühjahr 2018) geben werde. Denn von Fortschritten kann längst nicht mehr die Rede sein, vielmehr geht es in den europäisch-türkischen Beziehungen momentan darum, wie viele Rückschritte die EU noch verkraften kann, bevor sie die Reißleine zieht.

Der gestrige „Fortschritt“-Bericht ist 102 Seiten lang und in drei Kapitel unterteilt. In den ersten zwei Teilen haben die Experten der Brüsseler Behörde die demokratiepolitischen und volkswirtschaftlichen Fundamente der Türkei einer Tiefenbohrung unterzogen und im dritten und letzten Teil alle 33 EU-Beitrittskapitel en détail untersucht: Insgesamt 16 Kapitel wurden seit Verhandlungsbeginn eröffnet, und bis dato wurde eines erfolgreich abgeschlossen.

Bisher hatte die Kommission gegenüber der Türkei stets viel Fingerspitzengefühl an den Tag gelegt – diese diplomatischen Glacéhandschuhe wurden für den aktuellen Bericht abgelegt. „Im Lauf des vergangenen Jahres hat es hinsichtlich der freien Meinungsäußerung ernsthafte Rückschritte gegeben“, heißt es darin. Willkürliche Anwendung der Antiterrorgesetze habe die Meinungs- und Medienfreiheit untergraben, besorgt zeigt man sich in Brüssel ebenfalls über die Einschränkung der Versammlungsfreiheit sowie über das Vorgehen gegen politische Opposition.

Dass die Regierung in Ankara derart hart durchgreift, hat mit dem gescheiterten Putsch gegen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan am 15. Juli zu tun. Die Kommission befürchtet, dass die seither durch Gesellschaft und Staatsapparat rollende Säuberungswelle das gesamte Land destabilisieren und für die EU-Mitgliedschaft disqualifizieren könnte. Seit dem Putschversuch sind nach Brüsseler Berechnungen 40.000 Personen verhaftet (darunter mehr als 80 Journalisten) und 140.000 Beamte entweder suspendiert oder gefeuert worden. 4000 Institutionen und Privatunternehmen, die im Verdacht gestanden sind, ein Naheverhältnis zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen zu haben, wurden geschlossen bzw. zwangsenteignet. Die Kommission hat „ernsthafte Bedenken“ hinsichtlich der Qualität dieser Beschuldigungen. Einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen fasst sie zwar nicht ins Auge, sie wünscht sich allerdings mehr Klarheit bezüglich der europäischen Ausrichtung der Türkei. „Es ist Zeit, dass Ankara uns sagt, was wirklich gewünscht wird“, sagte Hahn gestern.

Erdoğan an EU: „Ihr seid Nazis“

Während der Erweiterungskommissar der türkischen Regierung ins Gewissen redete, ließ Erdoğan die Europäer über den türkischen Rundfunk TRT wissen, was er über sie denkt: „Sie schämen sich überhaupt nicht, uns mit den Nazis zu vergleichen, ohne dabei auf das Blut zu achten, das ihnen von ihren Fingern tropft. Die Nazis seid ihr selbst“, sagte der Staatschef gestern in Istanbul – eine Anspielung auf die Stellungnahme des Luxemburger Außenministers, Jean Asselborn, der zu Wochenbeginn das Vorgehen der türkischen Staatssicherheit gegen politisch Andersdenkende mit der Nazi-Ära verglichen hatte. Laut Erdoğan könne es sich die EU gar nicht leisten, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen, weil sie sich davor fürchte, dass Ankara dann drei Millionen Flüchtlinge in Richtung Europa losschicken werde.

Die EU-Kommission selbst sieht ihren jüngsten Bericht als eine Art Weckruf: Er hoffe, dass entweder Ratspräsident Donald Tusk oder die Kommission selbst nun von den Mitgliedstaaten den Auftrag bekommen werde, „jetzt Tacheles mit der Türkei zu reden“, sagte Hahn. Die Frage nach der Fortführung der Beitrittsgespräche sei politischer Natur und müsse von den EU-Mitgliedern beantwortet werden. Was die Möglichkeiten der Europäer zur Einwirkung auf die türkische Regierung anbelangt, zeigte sich der österreichische EU-Kommissar gestern „etwas ratlos“: Angesichts der jüngsten Entwicklungen falle es ihm schwer zu glauben, dass man Ankara auf Gesprächswegen von der Sinnhaftigkeit rechtsstaatlicher Prinzipien überzeugen könne.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.11.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Polizisten in der Türkei.
Außenpolitik

Türkische Polizei nimmt französischen Journalisten fest

Der Redakteur einer Online-Zeitung wird seit einer Reportagereise in der Provinz Gaziantep von türkischen Behörden in Gewahrsam gehalten.
TURKEY-POLITICS-HISTORY-COMMEMORATION-ATATURK
Außenpolitik

Die alten Grenzen der neuen Türkei

Nahost. Präsident Erdoğan stellt immer öfter den Vertrag von Lausanne infrage und sieht Teile des Iraks und Syriens als türkisches Gebiet. Die neue Präsidialrepublik rückt immer näher.
Die Staatsmacht verstärkt ihr Vorgehen gegen die Oppositionszeitung „Cumhuriyet“
Außenpolitik

„Cumhuriyet“-Herausgeber in Istanbul festgenommen

Die türkische Polizei nahm Akin Atalay bei seiner Einreise aus Deutschland fest. Es ist ein weiterer schwerer Schlag der Behörden gegen die kritische Zeitung „Cumhuriyet“.
Allein über die Todesstrafe zu sprechen sei eine Schande, sagt der Abgeordnete Hilmi Yarayici.
Außenpolitik

Türkei: „Die Ideale Atatürks sind in Gefahr“

Die Türkei werde unter Erdoğan bereits regiert wie im Präsidialsystem, sagt der sozialdemokratische Oppositionspolitiker Hilmi Yarayici.
Recep Tayyip Erdoğan.
Außenpolitik

Österreich: „EU-Gelder für Türkei einfrieren“

Abgeordnete von SPÖ, ÖVP, Grünen und Neos üben Kritik an Erdoğans Politik. Die EU solle Heranführungshilfe für Ankara aussetzen.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.