Feuer, das in dürren Ästen schläft

Ein Roman, so rätselhaft wie ein buddhistisches Kōan: „Die Toten“ von Christian Kracht ist amüsant, eine zeitlose Totalitarismusstudie und poetische Meditation über das unausweichliche Faktum des Todes. Neben vielen gewitzten Einfällen ist es vor allem die Sprache, die den Roman trägt.

Dass man in einem Roman von Christian Kracht, dem umstrittenen Kultautor mit dem chronischen Hang zur Ironie, dem Kosmopoliten, der bis auf Australien schon alle Kontinente bewohnt hat und kaum in Deutschland anzutreffen ist, ausgerechnet auf ein Zitat Friedrich Hölderlins stoßen würde, einen der ernstesten, schwierigsten und deutschesten unter den deutschen Autoren, hätte man sich selbst als eingefleischter Kracht-Leser nicht unbedingt gedacht. „Die Toten“, Krachts mittlerweile fünfter Roman, der auf der Shortlist zum Schweizer Buchpreis aufscheint, schließt mit jener Stelle aus dem „Hyperion“, an der es heißt, dass wir Menschen sind „wie Feuer, das im dürren Aste oder im Kiesel schläft“, gefangen in unserer „ganzen dürftigen Sterblichkeit“, an der wir leiden.

Dieser Verweis auf Hölderlin ist durchaus programmatisch für Krachts neuenRoman zu verstehen, der zwar in vielerlei Hinsicht ein typischer Kracht-Roman ist – im Spiel mit Fakten und Fiktion keinem strengen Realismus verpflichtet, mit feiner Ironie erzählt und kryptisch in der Aussage –, aber doch einen etwas nachdenklicheren, ernsteren, wenn man so möchte, reiferen Ton anschlägt als frühere Werke des Schweizers, der demnächst 50 wird.

Die „Zumutung der Vergänglichkeit“, wie es an einer Stelle heißt, ist das Kernthema des 200-seitigen Romans, in dessen Mittelpunkt ein Schweizer Filmregisseur steht, dem der Schmerz über die Endlichkeit des Lebens durch den Tod seines Vaters schlagartig bewusst wird. Emil Nägeli (ein nach Kracht'scher Manier herrlicher sprechender Name, weil Nägeli beständig an seinen Nägeln kaut) beschäftigt vor allem, was ihm sein Vater als allerletzte Worte noch hatte sagen wollen, als er ihm auf dem Sterbebett nur noch ein „H“ zuhauchen konnte – und der Leser rätselt mit, denn das Mysterium um das ominöse H wird sich bis zum Ende des Romans natürlich nicht auflösen, ähnlich, wie das Zauberwort „Rosebud“ in OrsonWells' filmischem Meisterwerk „Citizen Kane“ ein Rätsel ist.

Im Deutschland der 1930er-Jahre wird Nägeli von der UFA nach Japan entsandt, um dort einen Film zu drehen. Das Projekt soll dazu dienen, eine „deutsch-japanische Zelluloidachse“ anzuregen, die Initiative geht vom japanischen Ministerialbeamten Masahiko Amakasu aus, der sein Land so gegen den US-amerikanischen Kulturimperialismus verteidigen möchte. Mitspielen sollte Heinz Rühmann, rät man Nägeli bei der UFA, während Lotte Eisner und Siegfried Kracauer, die auch ein kurzes Gastspiel im Roman haben, den Schweizer dazu bewegen wollen, die Propagandaaktion zu unterlaufen und einen „Gruselfilm“ zu drehen, als „Allegorie des kommenden Grauens“. Nägeliselbst freut sich vor allem darüber, eine Gelegenheit zu haben, nach Japan zu reisen, wo seine deutsche Verlobte, Ida, lebt.

Doch verläuft die Reise ganz anders als geplant: Bevor Nägeli in Japan ankommt, hat sich Ida schon in Amakasu verliebt, den sie über Charlie Chaplin kennengelernt hat. Nägeli erwischt seine Verlobte in flagranti mit dem Japaner, filmt die beiden beim Koitus und bricht dann mit gebrochenem Herzen zu einer Odyssee in Richtung Norden auf, in die entlegensten Winkel der Welt, sammelt wertvolles Filmmaterial, das er zu Hause in den Schweizer Bergen zu einem Meisterwerk verarbeitet, wie er selbst sagt, bei dessen Vorführung allerdings einige Zuseher einschlafen. Ida und Amakasu sind zu diesem Zeitpunkt bereits unter tragikomischen Umständen gestorben.

An originellen Einfällen für den Plot mangelt es wie immer bei Kracht nicht, eine rasante Story darf man sich von „Die Toten“ dennoch nicht erwarten, vor allem der erste der drei Romanteile, der auch der längste ist, beginnt langsam und dient hauptsächlich dazu, anhand einiger traumatischer Episoden aus deren Kindheit und Jugend, Nägelis und Amakasus Psyche darzustellen. Dazwischen gibt es traumhafte Sequenzen, deren Bedeutung völlig rätselhaft bleibt, wenn man nicht die Form des Romans beim Lesen mitdenkt.

Wie einst vor vielen Jahren mit seinem Debüt erweist sich Kracht nun auch mit seinem fünften Roman als innovativ, indem er jene literarische Interkulturalität vorexerziert, die in Zeiten der Globalisierung im Grunde längst überfällig erscheint: „Die Toten“ nimmt eine literarische Form der einen Kultur (in diesem Fall der japanischen) und überführt sie in die literarische Tradition einer anderen Kultur (hier: der europäischen) – der Roman folgt formal und inhaltlich den Regeln des Nô-Theaters. So erklären sich dann auch nicht nur der dreiteilige Aufbau, die sukzessive Temposteigerung in Richtung Schluss sowie das Auftreten von geisterhaften Traumgestalten, sondern auch jene, dem Nô eigene, höchstartifizielle Sprache, die Krachts allwissender Erzähler spricht. In diesem Roman dominieren lange, elegante Satzkonstruktionen mit einer Vielzahl von Adjektiven;eingestreute japanische Begriffe, seltenes deutsches Vokabular und originelle sprachliche Bilder weisen den Erzähler als sublimen, wissenden Beobachter und Kracht als Autor von beeindruckendem Sprachvermögen und großer Kunstfertigkeit aus.

Neben den vielen gewitzten Einfällen sind es vor allem die Sprache und jene Kracht eigene feine, geradezu ernste Ironie, die den Roman zu einer so unterhaltsamen Lektüre macht und ihn als Ganzes trägt. Verhandelt werden einige Themen, „Die Toten“ diskutiert den Film, das Leitmedium unserer Kultur, sein Wesen, seine Rolle für die Inszenierung von Gewalt, übt Kritik an Amerika, dem Land „voller nicht eingehaltener Versprechungen und mutwilliger Enttäuschungen“, und rechnet mit einem kulturlosen Europa beziehungsweise einem Deutschland ab, aus dem man nur noch fliehen kann, sodass man den Roman auch allegorisch als zeitlose Studie über den Totalitarismus lesen kann, aus der sich durchaus Botschaften ins Hier und Jetzt überführen lassen.

Tiefenreflexion betreibt Kracht in keinem dieser Felder, das Buch wirkt im Gegenteil disparat – aber nicht beliebig zusammengewürfelt. Wer verbissen-europäisch nach einer großen, klaren Vernunftbotschaft sucht, wird kaum fündig werden. Ein Nô-Spiel ist der Zen-Philosophie verpflichtet, operiert mit Andeutungen und Symbolen, will das Herz des Zusehers anrühren statt ihn belehren, will ihn zu Buddha hinführen und ihm so helfen, die Vergänglichkeit des Lebens zu akzeptieren.

„Die Toten“ ist Nô par excellence, indem es der „Zumutung der Vergänglichkeit“ mit gelassener Ironie begegnet, die annehmen kann, was sowieso geschieht, ohne darüber vollends zu verzweifeln. Und schließlich gibt es ja noch das ominöse H, zum Beispiel wie in Hoffnung – aufs Nirwana oder auf jene Momente der Glückseligkeit, in denen wir Sterblichen „das Heilige“ schauen, wie das Hölderlin in dem Kapitel des „Hyperion“ so schön schildert, auf das Kracht verweist. ■

Christian Kracht

Die Toten

Roman. 224 S., geb., € 20,60 (Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.