Mehr als Donald Trump fürchtet Angela Merkel die Folgen seiner Politik. Ziehen sich die USA aus Europa zurück, muss sie die Führung übernehmen.
Angela Merkel hielt es nicht für nötig, in der Nacht auf Mittwoch wach zu bleiben. Sie bat ihren Stab, sie früh zu wecken, sollte Hillary Clinton wider Erwarten nicht die Präsidentenwahl in den Vereinigten Staaten gewinnen. Es war also eine eher kurze Nacht für die deutsche Kanzlerin. Wie die meisten Europäer ging sie sozusagen mit Clinton zu Bett und wachte mit Donald Trump auf.
Ein Albtraum für Merkel? Ihre erste Reaktion am Mittwoch ließ zumindest darauf schließen. Da bekam der nächste US-Präsident Nachhilfe im Fach Demokratie. Das Recht und die Würde des Menschen, so die Kanzlerin, hätten „unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung und politischer Einstellung“ zu gelten. Auf dieser Basis biete sie Donald Trump eine enge Zusammenarbeit an.
In diesen Worten schwang nicht nur Antipathie mit, sondern auch Angst. Allerdings weniger vor Trump als vor den Folgen seiner (zu erwartenden) Politik. Wenn sich die USA, wie Trump im Wahlkampf angekündigt hat, künftig weniger für Europas Sicherheit einsetzen, muss Merkel in der westlichen Welt die Führungsrolle übernehmen. Wer sonst könnte dem russischen und dem türkischen Staatspräsidenten dann die Stirn bieten, wenn nicht die EU? Und wer sonst soll Europa führen, wenn nicht Deutschland?
Bundespräsident Joachim Gauck hat es am Tag nach der US-Wahl angedeutet: Europa und Deutschland müssten jetzt mehr Verantwortung übernehmen, wenn sie ihre Werte verteidigen wollten. Das war durchaus wörtlich gemeint. Seiner estnischen Kollegin Kersti Kaljulaid versprach Gauck am Mittwoch nicht nur Solidarität, sondern auch militärischen Beistand. Denn im Baltikum und auch in Polen macht man sich große Sorgen. Wer soll im Osten Europas für Sicherheit sorgen, wenn Trump seine Nato-Truppen abzieht? Sind die Staaten dann den Versuchen Russlands, das einstige Gebiet der Sowjetunion wieder unter seine Kontrolle zu bringen, schutzlos ausgeliefert?
Abschied von Obama in Berlin. Im Stab von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg rechnet man mit dem Schlimmsten, wie ein geheimer Bericht zeigt, aus dem der „Spiegel“ zitiert. Demnach ist es nicht unwahrscheinlich, dass Trump die Zusage für die rotierenden US-Truppen in Osteuropa zurückzieht. Die größten Pessimisten halten es sogar für möglich, dass er die Krim als russisches Territorium anerkennt. Und dann? Europa würde wohl nach Angela Merkel rufen und Deutschland um Hilfe bitten.
Diese Woche kommt es – ungewollt – zu einer Staffelübergabe: Barack Obama landet am Mittwochabend in Berlin. Mit ihm hat Merkel immer eng zusammengearbeitet. Und nicht selten hat sie sich in heiklen Fragen der Weltpolitik hinter ihm versteckt. Am Donnerstag ist ein Vieraugengespräch geplant, tags darauf stoßen dann Frankreichs Staatspräsident François Hollande und die Ministerpräsidenten von Italien und Spanien, Matteo Renzi und Mariano Rajoy, dazu. Es ist die Abschiedstournee des scheidenden US-Präsidenten.
In Deutschland ist Obama ein Star, bejubelt und bewundert – und damit so ziemlich das Gegenteil von Trump. Sein Nachfolger wird in den meisten europäischen Medien kritisch gesehen, aber nirgendwo ist die Stimmung so apokalyptisch wie in Deutschland. „Das Ende der Welt (wie wir sie kennen)“ titelte der „Spiegel“ unter einer Illustration, die Trumps Kopf zeigt, im Begriff, die Welt zu verschlucken. Die „Zeit“ beschwor sicherheitshalber eine höhere Macht als Trump: „Oh my God“.
Dahinter verbirgt sich die Angst vor dem Ungewissen: Wird der bald mächtigste Mann der Welt seine Versprechen einlösen? Seine Drohungen wahr machen? Oder kommt doch alles anders? War sein zum Teil unterirdischer Wahlkampf nur Mittel zum Zweck?
Trump ist die große Unbekannte der Weltpolitik, wie auch eine Anekdote vom Mittwoch zeigt. Merkel wollte ihm persönlich zum Wahlsieg gratulieren. Bloß: Niemand in Deutschland hatte seine Telefonnummer. Erst mithilfe der Botschaft in Washington kam ein Kontakt zustande. Am Ende des Gesprächs sagte Merkel dann, dass sie Trump spätestens nächstes Jahr beim G20-Gipfel in Hamburg die Hand schütteln wolle. Der findet allerdings erst Anfang Juli statt. Von einem engen Kontakt geht Deutschland also eher nicht aus.
Auch auf der persönlichen Ebene bleibt diese US-Wahl nicht ohne Folgen für Merkel. Noch hat sie nicht kundgetan, ob sie nach der Bundestagswahl im Herbst 2017 als Kanzlerin weitermachen will. Jetzt bleibt ihr wohl nichts anderes übrig. Man würde ihr vorwerfen, Europa im Stich zu lassen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.11.2016)