Art Week: Stadt im Ausnahmezustand

(C) Raumteiler/ Screen Webseite.
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Künstler Gerald Straub schafft gern kleine „Verschiebungen im Alltag“. Im Rahmen der Art Week will er nun ein Lied der Sehnsüchte schreiben.

Ein großes, umrahmtes Fenster, am Anfang der Ungargasse gleich nach der Hidden Kitchen, ein paar Pflanzen auf dem Fensterbrett, dahinter ein leerer Raum: Was bis vor eineinhalb Jahren ein vollgestopftes Lager war, ist heute der sogenannte Raumteiler: ein Projektraum und Offspace, den die Stadtforscherin Christina Schraml, deren Schwester Karin, eine Psychologin und Stressexpertin, und der Journalist Matthias Winterer gegründet haben – zwecks vielfältiger Nutzung durch Künstler und Belebung der Nachbarschaft, mit Schachabenden, Filmvorführungen und einem „Bankerlkollektiv“.

Es ist ein Ort, wie geschaffen für die Ideen Gerald Straubs. Straub ist angewandter Kulturtheoretiker, was ein wenig nach Paradoxon klingt. „Es bedeutet, dass man die Kulturtheorie auch anwendet, nicht nur schreibt und nachdenkt“, sagt er. „Im weitesten Sinn bin ich einfach Kunst- und Kulturproduzent.“ Sein Thema ist die Stadt, und damit Wien. 2010 ist Straub, nach 15 Jahren in Mexico City, Schottland und London nach Österreich zurückgekommen. Die Zeit im Ausland sei natürlich prägend gewesen („weil die Leute überall mit der Stadt unterschiedlich umgehen“), die Rückkehr aufschlussreich. „Wenn man in Wien jemanden anlächelt, ist die Reaktion: Was willst du?“ Lächeln werde als Angriff gesehen und mit Misstrauen quittiert. „In London bekommt man zuerst einmal eine Chance.“

Dort, in London, hat Straub sechs Jahre an der Goldsmiths University unterrichtet. Die Theorie, die er vertritt: dass Kunst dazu beitragen könne, Wissen zu generieren. Und dass es schade wäre, wenn dieses Wissen nur in Kunstkreisen bliebe – dass man es stattdessen auch spartenübergreifend nutzen sollte. Zurück in Wien war Straub zuletzt fünf Jahre lang Kurator der „Kunstgastgeber im Gemeindebau“. Künstler und Gemeindebaubewohner hatten sich dabei jeweils gemeinsam Projekte und Szenen ausgedacht, Besucher wurden in einer Tour durchgeführt. Da saßen dann im Vorjahr – „Geben und Nehmen“ war das Thema – in einem Raum Polizisten und Bewohner in Gespräche über Sicherheit vertieft, im Hintergrund lief Polizeifunk. Die Besucher durften durchgehen und zuhören. Wie sie konkret mit der Situation umgehen sollten, wurde ihnen nicht gesagt. Als „Ermutigungswerkzeug“ sieht Straub solche Aktionen. „Man soll wieder lernen, Situationen assoziativ zu verstehen und sich selbst seinen Reim darauf zu machen.“

Im Hafen von Favoriten

Ähnliches hatte er vor drei Wochen im Sinn, als er den Viktor-Adler-Markt mit dem Verein Mitten in Favoriten zum „Hafen“ erklärte – samt Hafenbüro, Segelboot in der Fußgängerzone und Ausguck im benachbarten Heim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Dazu gab es Tattoos, die nicht Schiffe und Segel, sondern Häuser zeigten. „Kleine Verschiebungen“ der Realität, nennt das Straub, die helfen sollen, den Nachbarn kennenzulernen (ein Standler entpuppte sich als U-Boot-Veteran), Spaß zu haben, aber auch den gewohnten Raum anders zu erleben, dadurch den eigenen Blick zu schärfen – und letztlich „keine Angst zu haben“.

„Embedded Exception“ nennt er solche Aktionen: In der Stadt eingebettet einen Ausnahmezustand zu produzieren. Den gleichen Namen trägt auch ein Projekt, an dem er für die Internationale Bauausstellung IBA arbeitet, die 2020 in Wien stattfinden soll. „Im Kunst- und Kulturumfeld gibt es so viel Potenzial, bei dem es um die Stadt geht – das ist aber oft sehr selbstreferenziell. Das Ziel wäre, dass dieses Wissen eine höhere Sichtbarkeit bekommt.“ Dass ihn die Stadtplaner engagiert haben, ist ein Schritt in diese Richtung.

Wissen zu teilen, das war auch das erklärte Ziel des Common Sense Store, den er für die vorjährige Vienna Art Week im Raumteiler eingerichtet hat. In kleinen Kojen erteilten Experten Rat zu Gesundheit, Finanz oder Politik – und ließen dabei die vermeintlichen Klienten reden und merken, was sie selbst alles wissen. Heuer geht es, gemäß dem Thema „Seeking Beauty“, um das Schöne, aber auch den Zwang zur glänzenden Oberfläche, „unter der es umso rauer zugeht“. Straub will den Raumteiler dazu in ein Studio verwandeln und mit Interessierten ein Lied produzieren, in dem man sich der Utopie nähert. Ob sich genug Neugierige einfinden werden, darüber sorgt er sich nicht. Immerhin gehe es ums „Einfach-Machen“. Darum, die Angst zu verlieren. „Das ist mein Mantra geworden.“

AUF EINEN BLICK

Gerald Straub ist Künstler, Kurator und angewandter Kulturtheoretiker. Der geborene Grazer hat in Wien studiert und 15 Jahre im Ausland verbracht. Im Rahmen der heute, Montag, startenden Vienna Art Week will er unter dem Titel „Found Beauty“ einen Song über Utopien und Sehnsüchte produzieren. Von 14. bis 18. November täglich von 18 bis 22 Uhr, Raumteiler, Ungargasse 1. Am 19. November führt er eine der Touren in Künstlerateliers (15 Uhr, Treffpunkt Atelier Veronika Burger/Christina Werner, Lindengasse 61–63/2/14). 2016.viennaartweek.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2016)

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