Brexit: Wien will London werden

Noch bevor der Brexit vollzogen ist, suchen EU-Organisationen, Unternehmen und Banken nach einem neuen Zuhause. Auch Wien will davon profitieren.
Noch bevor der Brexit vollzogen ist, suchen EU-Organisationen, Unternehmen und Banken nach einem neuen Zuhause. Auch Wien will davon profitieren. (c) REUTERS
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EU-Organisationen, Unternehmen und Banken wollen London verlassen – Wien will vom Brexit profitieren und führt bereits Gespräche mit zwei großen EU-Aufsichtsbehörden.

Wien. Noch bevor Großbritannien aus der EU ausgetreten ist, beginnen die Begehrlichkeiten. EU-Organisationen, Banken und Unternehmen haben angekündigt, das Land zu verlassen – europäische Großstädte bemühen sich eifrig, ein neues Zuhause zu bieten. Auch Wien buhlt um deren Gunst. Vorerst im Hintergrund. Laut „Presse“-Recherchen arbeitet eine Taskforce bestehend aus Mitarbeitern von fünf Ministerien und Vertretern der Stadt Wien auf Hochtouren, um vom Brexit zu profitieren. Die Koordination hat das Bundeskanzleramt (SPÖ) übernommen, die inhaltliche Führung das Außenministerium (ÖVP). Finanz-, Gesundheits- und Wirtschaftsministerium liefern Inhalte ebenso zu wie die Wirtschaftsagentur der Stadt Wien.

Erster Schritt: EU-Organisationen holen

Konkret bemüht sich die Stadt um zwei große EU-Aufsichtsbehörden: Die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA) ist für die Wahrung der Finanzstabilität in der EU und das ordnungsgemäße Funktionieren des Bankensektors zuständig. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) ist für die Beurteilung und Überwachung von Arzneimitteln in der EU zuständig. Die EBA hat 200 Mitarbeiter und benötigt Büroflächen von rund 7000 Quadratmetern. Die EMA beschäftigt 1000 Menschen und sucht nach einem neuen Gebäude mit 20.000 Quadratmetern Fläche.

„Wir sind zuversichtlich, beide Organisationen für uns gewinnen zu können“, bestätigt Gerhard Hirczi, Chef der Wirtschaftsagentur Wien, das Projekt. Die Vergabe von EU-Agenturen muss allerdings mit allen EU-Mitgliedstaaten akkordiert werden. Wien habe laut Hirczi viel zu bieten – angefangen bei der geografischen Lage. Die Hauptstadt gilt immer noch als Drehscheibe zwischen Ost und West, weiters ist jede europäische Metropole innerhalb von drei Flugstunden zu erreichen. Die Agenturen würden sich in guter Gesellschaft befinden – immerhin beherberge Wien 30 internationale Organisationen, darunter Uno, OSZE und Opec. Auch was die Büromieten betrifft, sei Wien im Vergleich mit anderen Bewerbern im Vorteil.

Ein Standort, der laut „Presse“-Informationen in der engeren Auswahl ist, ist das Forum Donaustadt. Das Bauvorhaben soll ab 2017 nahe der U1-Station Kagran realisiert werden. Neben der Uno-City sind sechs Türme mit 105.000 Quadratmetern Fläche geplant. Eine Werbebroschüre für die EMA, in der die hohe Lebensqualität angepriesen wird, liegt der „Presse“ vor. Auch wird erwähnt, dass Wien die größte Studentenstadt im deutschsprachigen Raum sei und darum viel Nachwuchs bereithalte. Die Stadt habe sich zu einem wichtigen europäischen Standort im Bereich Life Sciences entwickelt – Synergien seien möglich, heißt es.

Natürlich haben auch andere Metropolen ihre Fühler nach den EU-Organisationen ausgestreckt: Mailand und Bonn gelten als Wiens härteste Konkurrenten. Was die EU-Bankenaufsicht betrifft, brachte sich der Finanzstandort Frankfurt ins Spiel – bei einer Bankenkonferenz vorigen Freitag wurde davon gesprochen, dass man mit einem Ansturm der Finanzinstitute ab 2017 rechne. Im Berliner Finanzministerium rechnet man sich laut einem „Spiegel“-Bericht aber kaum Chancen für die EBA aus. Bei der Gründung der europäischen Finanzaufsicht ging nämlich der für Versicherungen zuständige Bereich ohnehin nach Frankfurt. Nach europäischen Gepflogenheiten dürften nun andere Städte zum Zug kommen.

Zweiter Schritt: Banken gewinnen

Auch Wien hofft auf Banken. Dieses Jahr gab es zwei Newcomer: Die Mizuho-Bank, Japans drittgrößtes Institut, hat ihre Osteuropazentrale in Wien Donaustadt eröffnet. Die Bank of China, eine der größten chinesischen Banken, eröffnete im März eine Filiale am Börseplatz. Die in London stationierte russische Bank VTB Capital nannte Wien neben Frankfurt und Paris als möglichen Standort. „Das Interesse ist wechselseitig groß“, heißt es vonseiten Wiens.

Banker selbst sehen Wien als möglichen Ersatzplatz für in London stationierte Banken skeptisch. „Für keine dieser Banken kommt Wien infrage“, erklärt ein Senior-Banker aus der westlichen Bankenszene, im Gespräch. Das habe damit zu tun, dass es in Frankfurt bereits eine Infrastruktur gebe, an die man nur anzudocken brauche. Außerdem habe Wien an Attraktivität für den Sektor verloren, da Gehälter niedrig und Steuern hoch seien. Die Politik habe verabsäumt, dass hier der Leistungsgedanke so wie in Deutschland oder der Schweiz großgeschrieben werde. „Wien ist nicht einmal im Dornröschenschlaf“, warnt der Banker vor übertriebenen Hoffnungen.

AUF EINEN BLICK

www.diepresse.com/brexitBrexit.EU-Organisationen, Unternehmen und Banken wollen London verlassen. Eine Arbeitsgruppe von fünf Ministerien und Stadt Wien lotet aus, was man ihnen bieten kann. Konkret versucht man, die Europäische Bankenaufsichtsbehörde und die Europäische Arzneimittel-Agentur für Wien zu gewinnen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2016)

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